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1 ARBEITEN UND LEBEN IN DER FREMDE - Ziegelarbeit im 19. Jahrhundert 22:53
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22:53Bittere Armut trieb die Menschen in Norditalien dazu, sich in den Sommermonaten auf bayerischen Baustellen und Ziegeleien zu verdingen. Der Bauboom des späten 19. Jahrhunderts ist auch ihr Verdienst, doch die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren drückend. Mit dem Ersten Weltkrieg kam diese Arbeitsmigration schlagartig zum Erliegen. Von Julia Devlin (BR 2024) Credits Autorin: Julia Devlin Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Thomas Birnstiel, Caroline Ebner, Sebastian Fischer Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Lambert Grasmann Linktipps: Alles Geschichte (2024): Kinderarbeit – bei uns doch nicht! Gertraud Seidl aus der Nähe von Augsburg ist stolz: Sie ist vier Jahre alt und darf nun endlich auch mit auf die Weide und ihren Schwestern beim Hüten der Kühe helfen. Es bleibt aber nicht bei dieser Aufgabe. Auf dem Bauernhof ihrer Eltern ist in den 1950er Jahren so viel zu tun, dass sie nur wenig Zeit zum Spielen und für die Schule übrig hat. Dabei macht ihr nichts so viel Spaß wie zu lesen und zu lernen. Als sie in der achten Klasse ist, treffen ihre Eltern hinter ihrem Rücken eine folgenschwere Entscheidung. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab. JETZT ANHÖREN SWR (2021): Wie werden Ziegelsteine hergestellt? Ziegelsteine dienen seit tausenden von Jahren überall auf der Welt als wichtiger Baustoff. Für ihre Herstellung braucht man Ton, Lehm und heiße Öfen. Für die richtige Form sorgen Strangpressen. Moderne Ziegel haben Hohlräume, die eine bessere Schall- und Wärmedämmung bewirken. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO Eisenbahn ZITATOR Pietro Menis Meinen Einstand, meine erste Erfahrung in Deutschland erlebte ich zu Beginn des Jahrhunderts in der Ziegelei von Marktoberdorf in Bayern. Ich war noch keine elf Jahre alt und hatte nie zuvor einen Zug bestiegen, noch die Welt jenseits der Berge von Gemona gesehen. Dreißig Stunden dauerte die Fahrt in drei verschiedenen Zügen: einer bis zur Grenze bei Pontebba, ein zweiter durch Österreich bis Kufstein und ein dritter durch Ebenen, dichte Wälder und geschäftige Städte des fetten Bayern. Wie groß war doch die Welt! SPRECHERIN So beschrieb der Schriftsteller Pietro Menis, wie er im Jahr 1903 das erste Mal nach Bayern kam, um als "Mui", als Wegtrager in einer Ziegelei zu arbeiten. Er war zehn Jahre alt, und ihn quälte das Heimweh. ATMO Dampfzug ZITATOR Pietro Menis 'Gleich sind wir da, "mui", packt eure Sachen.' Durch das beschlagene Fenster sah ich dichtes Schneetreiben. Kurz danach hielt der Zug unter einem kleinen Dach, unter das der Sturm den Schnee trieb. Ich zitterte vor Kälte und Angst. 'Um diese Zeit macht deine Mutter die Polenta!' sagte einer. Ich begann zu weinen; sie hatten ihr Ziel erreicht und lachten mit unmenschlichem Vergnügen. Ich erinnere mich, daß 'die Großen', die 'eisenharten' Ziegler, auch später, in den folgenden Jahren, ihren Sadismus auslebten, indem sie den Jüngsten ihre heiligste Zuneigung in Erinnerung riefen - die geliebten Gesichter in der Ferne. SPRECHERIN Pietro war einer von tausenden Italienern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre ländlich geprägte Heimat in Norditalien verließen, um sich während der Sommersaison im Ausland zu verdingen. ZITATOR Pietro Menis Die 'Arbeit', die Ziegelei, befand sich in einem kleinen Tal zwischen einem Hügel, der rechts anstieg, und einem Fluß, der links hinunterfloß. 'Beim Morgengrauen geht's los. An die Mutterbrust könnt ihr euch im Herbst wieder werfen...' MUSIK SPRECHERIN Es war die bittere Not, die die Menschen dazu zwang. Schon immer war es in den kargen Alpentälern schwer gewesen, sich ein Auskommen zu verschaffen, und Saisonwanderung, besonders von spezialisierten Handwerkern wie Terrazzolegern und Schmieden, aber auch von Krämern, hatte jahrhundertealte Tradition. Dann geriet die italienische Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Krise, da billige Agrarprodukte aus Russland und den USA auf den Markt kamen. Dies traf besonders die norditalienische Region Friaul schwer. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stark an, vor allem, weil die Kindersterblichkeit erheblich zurückging. Die Menschen verarmten, denn es gab nicht genug Arbeitsplätze in der Nähe. Nun waren es nicht mehr nur die spezialisierten Handwerker, die saisonal nach Arbeit suchten, sondern vor allem ungelernte Kräfte. ATMO Baulärm SPRECHER Anders nördlich der Alpen. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nahm die Industrialisierung im Deutschen Kaiserreich Fahrt auf, die Städte wuchsen, das Eisenbahnnetz verdichtete sich. Es gab immer mehr Arbeit, und immer mehr Baustellen. Gleichzeitig wurde es auch immer schwieriger, in den Sommermonaten genügend Arbeitskräfte für die Saisonarbeit zu finden. Mit Einheimischen war das nicht mehr zu stemmen - zumal am Ende des 19. Jahrhunderts eine Auswanderungswelle knapp zwei Millionen Deutsche nach Übersee geführt hatte. Da lag es nahe, ausländische Arbeitskräfte anzustellen. Sie waren bereit, die harte Arbeit zu leisten, die bei den Einheimischen nicht beliebt war. MUSIK SPRECHERIN Auch Bayern boomte. Hier fanden vor allem Arbeitskräfte aus Italien Arbeit. Weil sie von jenseits der Alpen kamen, wurden sie "transalpini" genannt. Sie fanden - wie Pietro Menis - vor allem in den zahlreichen Ziegeleien Arbeit. Wo immer sich im lehmreichen Bayern im 19. Jahrhundert ein Vorkommen dieses Rohstoffs fand, wurde er alsbald abgebaut, zu Ziegeln verarbeitet und zu den nächstgelegenen Baustellen gebracht. Zahlreiche Ziegeleien gab es zum Beispiel um Augsburg und München. Die dort gefertigten Ziegel wurden für den Bau der rasch wachsenden Stadt benötigt, für die großen Kasernen, für die Pflasterung der Gehwege und Straßen und für die Tunnel der neuen Kanalisation. Die Städte waren ziegelhungrig, sie verschlangen Unmengen des Baustoffes. SPRECHER Doch auch anderswo, wo der Rohstoff Lehm zu finden war, entstanden aufgrund der großen Nachfrage Ziegeleien. So auch im niederbayerischen Vilsbiburg. Im Heimatmuseum der Stadt erfährt man viel zu der Ziegeleigeschichte. Lambert Grassmann hat hier in seiner Zeit als Direktor des Heimatmuseums die Abteilung "Ziegelpatscher und Ziegelbrenner im Vilsbiburger Land" eingerichtet. Im obersten Stockwerk des stattlichen Baus - dem ehemaligen Heilig-Geist-Spital aus dem Spätmittelalter- kann man seine Funde bewundern. SPRECHERIN Da gibt es Dachziegel aller Formen und Größen, tönerne Wetterhähne, die hölzernen Formen, in denen der rohe Lehm gepresst wurde. Es gibt markierte Ziegelsteine, die Beschriftungen tragen, auf denen eine Zeichnungen eingeritzt ist oder ein Name. Dies sind die Feierabendziegel, bei denen sich ein Ziegler die Freude gemacht hat, einen Ziegel individuell zu verschönern. Anrührend das Exemplar, das den Abdruck einer kleinen Hand zeigt: Hier hat ein Kind, vielleicht so alt wie Pietro Menis, seine Hand in den noch feuchten Lehm gedrückt. Lambert Grasmann hat diese Exponate zusammengesucht. Wie er erzählt, hat er O-Ton Grasmann 1 Darunter einen Ziegelstein erhalten, eine Bodenplatte, die bezeichnet ist: "Buia, Santi Angelo". Kein Mensch hat gewusst, was das bedeutet. SPRECHER Die quadratische Platte aus Ton stammte aus einem Bauernhaus der Umgebung. Sie war Teil des Fußbodenbelags gewesen. Jemand hatte sich große Mühe damit gegeben, in sorgfältigen Buchstaben in den noch feuchten Ton zu ritzen: Buia Santi Angelo. O-Ton Grassmann 2 Der Kreisheimatpfleger von Dingolfing, Fritz Markmüller, hat mir das aufgelöst: Buja ist eine Stadt, wo - aus dem Umkreis vor allem - Ziegler nach Bayern, in die Schweiz und nach Frankreich gewandert sind und haben Ziegel hergestellt. SPRECHERIN Buja liegt im Friaul, einer Landschaft in Venetien im Nordosten Italiens. Die in Bayern tätigen transalpini kamen vor allem aus dieser Gegend. Lambert Grassmann hat sogar noch einen persönlichen Kontakt zu den transalpini herstellen können. O-Ton Grassmann 3 Und ich habe einen alten Herrn gefunden, der ist mir verraten worden von der Gemeinde, einen Domenico Calligaro, dessen Vater in Vilsbiburg von 1883 bis 1908 Akkordant, also Ziegelmeister war, und der für die Anwerbung der Arbeiter, dann fürs Essen zuständig war, und auch für die Bezahlung, die er ja vom Ziegeleibesitzer erhalten hat, die hat er dann an die Arbeiter weitergegeben. SPRECHERIN Die Akkordanten waren Zwischenunternehmer. Sie waren oft selber Ziegeleiarbeiter gewesen und beherrschten die benötigten Sprachen - deutsch, italienisch und das im Friaul gesprochene furlanisch. Vor Saisonbeginn handelten sie mit den Ziegeleibesitzern einen Vertrag aus. Darin wurde festgelegt, wieviele Steine zu liefern waren und wie die transalpini untergebracht und verpflegt würden. Auch der Preis für 1000 Stück Steine wurde ausgehandelt. Mit dem Vertrag in der Tasche kehrten die Akkordanten ins Friaul zurück und warben dort eine Mannschaft, die sogenannte squadra an. Die Menschen, die die Wintermonate ohne Einkommen gewesen waren, verpflichteten sich bereitwillig. Diese Tage des Anheuerns wurden in einigen Dörfern wie ein Volksfest begangen, auch wenn kritische Stimmen von einem "Markt für Menschenfleisch" sprachen. MUSIK SPRECHER Im März oder April brachen die Ziegler dann nach Deutschland auf. Vor dem Bau der Bahn war dies ein Fußmarsch von etwa zehn Tagen. Die Route folgte jahrhundertealten Pfaden, über den Plöckenpass, den Felbertauern und den Pass Thurn nach Kitzbühl und Kufstein bis nach Bayern. Der Akkordant führte seine Arbeitsgruppe, organisierte die Verpflegung und die Unterkunft auf der Strecke. SPRECHERIN Mit der Brennerbahn wurde 1867 eine direkte Verbindung zwischen Deutschland und Italien geschaffen. Dies verkürzte die Reisedauer nach Bayern auf zwei Tage. Im Herbst ging es dann zurück. Der Akkordant Luigi Calligaro blieb jedoch in Vilsbiburg, wie Lambert Grassmann von dessen Sohn erfahren hat. O-Ton Grassmann 4 Der Domenico Calligaro, 1890 geboren, war natürlich bei seinem Vater mit dabei, und der Mutter, und die haben diese Jahre, von 1883 bis 1908 in Vilsbiburg gelebt. Die sind praktisch nicht heimgefahren, oder heimgewandert, wie die Ziegelarbeiter, die ja im März gekommen sind und im Oktober, spätestens Anfang November wieder in die Heimat mit Geld zurückgekehrt sind, sondern der ist dageblieben. Dieser Luigi Calligaro, dieser Akkordant, der hat in Vilsbiburg eine gehobene Stellung gehabt. Der war schon jemand, den man auch gehört hat. SPRECHER Durch ihre Orts- und Sprachkenntnisse hatten die Akkordanten eine mächtige Position, denn die von ihnen geworbenen Saisonarbeiter waren auf sie ebenso angewiesen wie die Ziegeleibesitzer. Möglicherweise war die verbesserte Bahnverbindung der Grund dafür, dass der Akkordant Luigi Calligaro nicht mehr als Begleitung benötigt war. Auch war es für das Familienleben einfacher - der Sohn Domenico musste nicht aus seinem Alltag herausgerissen werden. O-Ton Grassmann 5 Er war ja im Kindergarten in Vilsbiburg, und ist auch in die Schule gegangen, er hat mir sein Schulzeugnis gezeigt. Ich hab von seinem Sohn dann, vom Piere-Luigi, ein Erstkommunionzeugnis von 1901 bekommen; das kann man im Heimatmuseum sehen. MUSIK SPRECHERIN Fast achtzig Jahre später kehrte Domenico Calligaro nach Vilsbiburg zurück - 1979, zu einem Klassentreffen. Lambert Grassmann hat ihn dann kurz darauf während eines Italienurlaubs in Buja besucht. Daraus entwickelte sich nicht nur eine persönliche Freundschaft, sondern auch eine lebendige Städtepartnerschaft zwischen Vilsbiburg und Buja. SPRECHER Sehr gerne kommen die Besucher aus Buja ins Museum, denn hier liegt ein Verzeichnis mit über 2.300 italienischen Ziegelarbeitern und -arbeiterinnen aus. Lambert Grasmann hat dazu Krankenversicherungsunterlagen ausgewertet. Denn im wilhelminischen Kaiserreich waren ab 1883 alle Beschäftigten in Handwerks-, Fabrik- und Gewerbebetrieben krankenversicherungspflichtig. O-Ton Grassmann 7 Da sind also die Namen drin, die Herkunft der Ziegler, die persönlichen Daten, der Arbeitsort, und die Arbeitszeit, also vom Anfang bis zum Herbst, solang sie halt da waren. SPRECHERIN Eine Fundgrube für die Familienforschung. O-Ton Grassmann 8 Wenn Besucher aus Buja kommen, da können die wunderbar suchen drin, die finden dann einen Angehörigen, der da gearbeitet hat. MUSIK SPRECHERIN Die Arbeit in den Ziegeleien war hart. Ein zeitgenössischer Beobachter schreibt: Zitator Giovanni Cosattini Die Arbeiter, welche der größten Anstrengung unterworfen sind, sind die Handformer, deren Arbeit, den Tonklumpen hochzuheben und in die Form zu drücken, eine große Arbeitskraft in Armen und Brust erfordert... Jeder Ziegelformer hat eine Arbeitsbank zu seiner Verfügung nebst einer kleinen Kiste für den Sand, der auf das Rohmaterial gestreut wird... Ihm helfen zwei Muli, wie im Berufsjargon die beiden Knaben zwischen 10 und 15 Jahren genannt werden, denen es obliegt, die gefüllte Form aufzuheben, den Ziegel herauszunehmen, ihn auf den Trockenplatz zu schaffen, die Form zur Bank zurückzubringen, sie mit Sand zu bestreuen und dem Former zu reichen. SPRECHERIN Auch Frauen wurden als Muli eingesetzt. O-Ton Grassmann 15 Die Frauen, das waren die Wegtrager. Und die Kinder. Die mui auf Furlan, auf Friulanisch, und sonst auf Italienisch heißen sie muli. So hat man sie genannt, und so hat man sie auch benutzt. SPRECHERIN Zwischen fünf- und siebentausend Ziegel musste ein einzelner stampatore, ein Ziegelpatscher, wie er auf bayerisch hieß, an einem Tag schlagen. Die Arbeit begann zwischen vier und fünf Uhr morgens und dauerte bis in die Nachtstunden. Und dies bei ebenso dürftiger Ernährung, die vor allem aus Polenta und Käse bestand, und bei dürftiger Unterkunft: Die Schlafräume waren meist mit Stroh ausgelegte Bretterverschläge auf dem Gelände der Ziegelei, oder die Holzböden der Trockenstadel. SPRECHER Im Jahre 1879 setzte das Königreich Bayern eine Gewerbeaufsicht ein, um den Schutz von Arbeitern und Arbeiterinnen in Betrieben zu kontrollieren. Lambert Grassmann weiß zu berichten: O-Ton Grassmann 9 Da ist der sogenannte Fabrikeninspektor gekommen aus Landshut und hat nachgeschaut, wie es mit den Arbeitsstellen ausschaut, mit den Unterkünften, etc., mit den hygienischen Verhältnissen, und das waren natürlich nicht die besten. Gerade die sogenannten Aborte, hat er geschrieben: "Es gibt kein Dach, es gibt keine Seitenwand, es gibt keine Rückwand, es gibt keine Türe. Es gibt nur einen Balken." Und dann, aufgrund dieser Beanstandung, ist es dann besser geworden. Es sind dann feste Unterkünfte gemacht worden, ein paar Häuser stehen noch... SPRECHER Besonders die Kinder- und Jugendarbeit in den Ziegeleien war der Gewerbeaufsicht ein Dorn im Auge. Sie versuchten, das Mindestalter für die Jugendlichen heraufzusetzen und ihre Arbeitszeit zu begrenzen. O-Ton Grassmann 10 Es hat einen Aushang geben müssen, wo also diese Schüler aufgelistet werden müssen, 28.47 und da ist also immer wieder aufgefallen, dass welche unter 13 Jahren, mit 10 Jahren also haben sie welche mitgenommen. Und die san dann heimgeschickt worden. Wie das gegangen ist, weiß ich nicht, aber sie sind dann heimgeschickt worden. MUSIK SPRECHERIN Auch in der bayerischen Schulbehörde sorgte man sich um die minderjährigen Italiener. Denn die Schulpflicht erstreckte sich in Bayern auch auf ausländische Kinder. So richtete ab 1890 die Schule an der Wörthstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen eigene Schulklassen ein, in denen die Kinder der transalpini und jugendliche Ziegeleiarbeiter auf Italienisch unterrichtet wurden. Hier, am Ostufer der Isar, befanden sich zahlreiche Ziegeleien, denn zwischen Ismaning und Ramersdorf erstreckte sich eine ertragreiche Lehmzunge. SPRECHER Das Ansinnen mutet heute bemerkenswert fortschrittlich an. Es war ein bayerisch-italienisches Prestigeprojekt. Der päpstliche Nuntius schaute gelegentlich vorbei. Der italienische Generalkonsul und der Vizekonsul ließen sich gerne bei der jährlichen Abschlussfeier sehen, und dank großzügiger Spenden wurde jedes Kind an diesem Tag mit einem neuen Gewand, einer Brotzeit und einem Glas Bier bedacht. Doch die gutgemeinte Idee scheiterte an der Praxis. Zu weit waren die Wege, und zu sehr wurde die Arbeitskraft auch der Jüngeren gebraucht. Und so wurde das Projekt schon 1904 wieder aufgegeben. SPRECHERIN Auch die katholische Kirche kümmerte sich um die transalpini. Dies war aufgrund der Konfession naheliegend. Die Kirche verglich die Arbeitsmigration mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten oder mit der Flucht der Heiligen Familie. Sie gründete die Hilfsorganisation "Opera di assistenza". Lambert Grassmann weiß von Vilsbiburg zu berichten: O-Ton Grassmann 13 31.01 1898 hat also die Obrigkeit möglich gemacht, dass die italienischen Ziegelarbeiter in der Wallfahrtskirche Maria Hilf zu Vilsbiburg einen Gottesdienst haben besuchen können, und die Predigt hat ein aus München stammender ... Pater gehalten, der Pater Linus, der war Vikar des Kapuzinerklosters in München, hat natürlich Italienisch können, vielleicht war's sogar ein Italiener. MUSIK SPRECHER Neben den Ziegeleien waren die zahlreichen Baustellen im Boomland Bayern ein Betätigungsfeld der transalpini. Im Hoch- und Tiefbau, für Häuser, Tunnels, Straßen und Eisenbahn wurden die italienischen Wanderarbeiter eingesetzt. Hier kamen den transalpini ihre Erfahrung mit dem schwierigen Terrain der Alpen zugute. Der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf schildert in seinem autobiografisch geprägten Roman "Das Leben meiner Mutter", wie er einen solchen Bautrupp erlebte: ZITATOR Oskar Maria Graf Die Bauleute setzten sich zum Teil aus bärtigen, dunkelhäutigen, ausgedörrten Italienern zusammen... Sie redeten ein ziemlich unverständliches Kauderwelsch zusammen, aber sie schufteten viel ergebener als die einheimischen, meist schon gewerkschaftlich organisierten Maurer. Sie kamen scharenweise Sommer für Sommer aus den armen Gegenden ihrer fernen Heimat, arbeiteten für jeden Lohn und kannten nur eine Kameradschaft unter sich, die wahrscheinlich auch nur von der gleichen Sprache herrührte. Sie knauserten und sparten und waren auf jeden Pfennig Nebenverdienst gierig erpicht... SPRECHERIN Oskar Maria Graf beschreibt, warum die transalpini als Arbeitskräfte so beliebt waren: sie waren zuverlässig, anspruchslos und bereit, die unbeliebte, harte Arbeit zu leisten. Zudem waren sie durch ihre mangelnden Deutschkenntnisse und ihren immer nur saisonalen Einsatz isoliert. Daher wurden sie gerade auf Baustellen immer wieder als Streikbrecher und Lohndrücker eingesetzt, wo sie teilweise durch Polizei von den einheimischen Arbeitern abgeschirmt werden mussten. Denn sie machten sich dadurch natürlich nicht beliebt. Die Bezeichnung "Furlan", eigentlich nur die Bezeichnung für eine Person aus dem Friaul, wurde in deutschen Maurerkreisen sogar ein Synonym für einen Streikbrecher. SPRECHER Graf spricht auch die Sparsamkeit der transalpini an. Sie gaben kaum etwas für sich selber aus, denn sie wollten möglichst viel Geld mit zurück nach Hause nehmen. Das trug in der Tat Früchte. Der Lebensstandard in der Heimat besserte sich, denn die Wanderarbeiter brachten nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Wissen und ihre Fertigkeiten mit ins Friaul. Die Schattenseite war jedoch, dass sie über ein halbes Jahr zuhause fehlten - ein geregeltes Familienleben war mit monatelang abwesenden Familienvätern nur schwer möglich, und die Arbeit in der Landwirtschaft mussten die Daheimgebliebenen stemmen. SPRECHERIN Eine weitere Schattenseite war der gestiegene Bierkonsum der Heimgekehrten. Oft wurde auf den bayerischen Ziegeleien Bier ausgeschenkt, und viele transalpini wollten es auch während der Wintermonate in der Heimat nicht mehr missen. Die Brauereien im Friaul steigerten ihre Produktion zwischen 1890 und 1914 um das Neunfache. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Todesfälle durch Alkohol rasant an. Besonders beunruhigend war, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die aus Bayern zurückkehrten, sich das Biertrinken angewöhnt hatten. MUSIK SPRECHER Wie viele transalpini in Bayern arbeiteten, lässt sich nur ungenau feststellen, Schätzungen gehen von zwölf- bis fünfzehntausend Personen für eine Sommersaison aus. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Massenwanderung schlagartig zum Erliegen. Die Italiener, die sich gerade zur Saisonarbeit in Bayern aufhielten und im August 1914 von der Kriegserklärung überrascht wurden, kehrten überstürzt nach Hause zurück. Angetrieben von der Furcht, dass eine Rückkehr später nicht mehr möglich sein könnte. Es gab Unruhen und Staus in vielen Grenzorten, so auch in Kufstein, ein Nadelöhr für die transalpini, die von Bayern ins Friaul zurück wollten. Oder mussten: Denn viele transalpini erhielten einen Einberufungsbefehl. Aus Zieglern wurden nun Soldaten. Das Kriegerdenkmal in Buja zählt 101 Ziegler auf, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. SPRECHERIN Und so kam die lange Tradition der Arbeitsmigration von Italien nach Bayern zum Erliegen. Erst gute vier Jahrzehnte später, in der Wirtschaftswunderzeit, schloss die junge Bundesrepublik ein Abkommen über Arbeitswanderung mit Italien. Dabei zeigte sich, dass beide Seiten noch stark auf die Erfahrung der transalpini vor dem Ersten Weltkrieg zurückgriffen, was eine Illusion der Rückkehr anbetraf. Vor allem die Bundesregierung glaubte, dass die sogenannten Gastarbeiter saisonal oder nach Konjunktur zu steuern wären, weil man sich noch an der zyklischen Arbeitsstruktur des Kaiserreichs orientierte. MUSIK SPRECHER Was bleibt von Jahrzehnten der Arbeitsmigration? Nur wenige transalpini ließen sich auf Dauer in Bayern nieder. Doch ihr Vermächtnis findet sich in den Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vermauert in Häusern und Schulgebäuden, Kirchen und Kasernen, Krankenhäusern und dem unterirdischen Kanalnetz der Städte.…
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1 ARBEITEN UND LEBEN IN DER FREMDE - Waren schleppen über die Alpen 22:36
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22:36Oft trugen sie 50 Kilo auf dem Rücken. Sie kamen dahin, wo die Säumer mit ihren Pferden und Wagen nicht hinkamen. Zu Fuß trugen sie auf ihren "Kraxen"-Gestellen Waren über die Alpen und bedienten einen inneralpinen Handel, der heute schon fast vergessen ist. Von Markus Mähner (BR 2021) Credits Autor: Markus Mähner Regie: Irene Schuck Es sprachen: Berenike Beschle, Friedrich Schloffer Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Robert Büchner Besonderer Linktipp der Redaktion: Radiowissen (2025): Rezepte des Überlebens Ganz typische Verhaltensweisen rund ums Essen gibt es in fast jeder Familie - dass man zum Beispiel als Kind immer seinen Teller leer essen sollte. So war es jedenfalls bei Iska Schreglmann. Als ihre Mutter stirbt und sie die Wohnung ausräumt, fällt Iska ein Kochbuch von 1871 in die Hände. Als sie erfährt, dass ihre Eltern als Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg hungern mussten, beginnt sie zu recherchieren: Was hat das rätselhafte Kochbuch mit dem Hungerwinter von 1946/47 zu tun? Und was mit ihr selbst - etwa damit, dass sie immer alles aufessen musste? ZUM PODCAST Linktipp: SWR (2023): Hast du mal ‚nen Euro? Zur Kulturgeschichte des Bettelns Mal sind es Hilfsbedürftige in auswegloser Lage, mal arbeitsunwillige Faulenzer oder gar Kriminelle - das Bild des Bettelns ist widersprüchlich und wandelbar: Genoss es im Mittelalter noch einen guten Ruf, störten Bettler in der Neuzeit immer öfter die öffentliche Ordnung und Arbeitsmoral. Und heute? Welche Rolle hat Bitten und Betteln in unseren Gesellschaften? Warum hat sich das Bild vom Betteln so verändert? Und ist Crowdfunding auch eine Form des Bettelns? JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHER Ein bekanntes Gemälde Carl Spitzwegs zeigt einen Mann mit langem Stock und mannshoher Holzkiste auf dem Rücken, wie er gerade auf einem Baumstamm, der als Brücke dient, eine Schlucht überquert. Er trägt zerfranste Kleidung und einen Tirolerhut mit Feder. Das Vorbild für diesen „Kraxenträger“, wie der Bildtitel den Mann bezeichnet, war der Berchtesgadener Anton Adner, den Spitzweg als Kind noch kennengelernt hatte. Adner, der im Jahr 1822 im stolzen Alter von 117 Jahren starb, gilt heute noch als der älteste bekannte Bayer. Ein Zusammentreffen mit dem bayerischen König Maximilian I. Joseph, fünf Jahre vor seinem Tod, machte den Berchtesgadener endgültig unsterblich. ZITATOR „Der Mann mit seinen Silberhaaren, klein und mager von Gestalt, aber noch frisch und froh, ohne alle Stütze eines Stabes, nahte sich dem freundlich ihm zugewandten Könige.“ SPRECHER Heißt es über Adner in einem 1827 veröffentlichen Buch mit „Anekdoten aus dem Leben Maximilian I. Joseph“ ZITATOR „Nachdem er früh sich mit dem Gewerbehandel mit Berchtoldsgadner Waren zu widmen begann, trug er noch in dem Alter von hundert Jahren zu Fuß hölzerne Fabrikarbeiten und Spielzeuge aus der Heimat mit dem beladenen Tragkorbe auf dem Rücken über die Berge nach Salzburg, der Schweiz, Tirol, Steiermark, Österreich und Bayern. Seine weiße Kappe trug er bereits 33 und seinen Rock 55 Jahre.“ SPECHER Was hier wie ein romantisch verklärtes Idyll klingt, war für die Betroffenen oft die einzige Möglichkeit ihren dürftigen Lebensunterhalt zu verdienen. Und Adner war beileibe nicht der Einzige. In manchen Gegenden stellten die „Kraxenträger“ zeitweise einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung dar. Denn die Hochgebirgsregionen wie das Walsertal, das Zillertal oder das Defereggental waren noch keine Tourismusziele. Robert Büchner, emeritierter Geschichtsprofessor an der Universität Innsbruck: Büchner Die Hochzeit für sie war so 1760 bis erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dann kommt schon die Massenproduktion und so weiter, Massenindustrie. SPRECHER Wanderhandel gab es schon immer. Doch dass im 18. Jahrhundert dieses mühsame Gewerbe - besonders in gebirgigen oder moorigen Regionen - besonders stark anwuchs, lag an zwei Faktoren. Büchner [...] Bleiben wir mal bei Bayern und bei Tirol und angrenzende Länder: Im Alpenvorland und in den Gebirgsgegenden, besonders den Hochgebirgsgegenden wie in Tirol, war zu wenig Land vorhanden, das bebaubar war, war ein karger Boden. Das heißt zu gut Deutsch: Wenn die Bevölkerung wächst - und sie wächst bei uns seit Ende des 15. Jahrhunderts im Reich deutlich sichtbar an, die Verluste seit der großen Pest von 1348 sind dann aufgeholt - es waren zu viele Leute da. Aus Studien aus Oberbayern wissen wir, dass die Landwirtschaft nicht mehr genügend Leute anstellen / aufnehmen konnte. SPRECHER Und somit war es nicht nur für landwirtschaftliche Tagelöhner ohne eigenen Grund notwendig sich ein anderes Auskommen zu suchen. Auch mancher Hof ernährte nur mehr den Erstgeborenen. Die jüngeren Geschwister mussten „auf Wanderschaft“ gehen, wie Robert Büchner sagt: Büchner Das sind also alles einkommensschwache, unterbäuerliche Schichten, die gezwungen sind, aus Armut auf Wanderschaft zu gehen und einen Nebenverdienst zu suchen. Und der war bei einem normalen Kraxenträger um 1800 sehr gering. 30 Gulden pro Mann. Davon konnten sie - selbst wenn sie eine kleine Bauernschaft mit zwei Kühen hatten und zwei, drei Feldern - nicht leben. Sie konnten leben davon, wenn die ganze Familie auf Reisehandel sich einließ. SPRECHER Denn auch die Frauen – ja manchmal sogar Kinder, obgleich das eigentlich verboten war – durchstreiften die Lande als Händler. Zunächst verkauften sie eigene landwirtschaftliche Produkte oder gesammelte Kräuter auf dem Markt einer nahen Stadt. Doch schon bald zog es sie auch weiter in die Ferne mit anderen, oft selbst hergestellten Produkten. Vielerorts waren ein Drittel der Händler Frauen. Gerade ledige, verwitwete oder geschiedene Frauen hatten keine andere Chance als sich als Kleinhändler/innen durchzuschlagen und selbst ausgegrabene Enzianwurzeln – zum Brennen von Schnaps – oder selbstgeklöppelte Spitze zu verkaufen. Im Grödnertal, wo das Spitzklöppeln große Tradition hatte, gab es teils sogar mehr Frauen als Männer im Wanderhandel. MUSIK SPRECHER Doch meist waren es doch die Männer die mit der Kraxe losgingen. Und meist auch länger und weiter als die Frauen. Wie sehr das auch das Leben in manchen Orten verändert hat, zeigt sich noch heute in Chroniken aus dieser Zeit. Manche sprichwörtliche „Wanderhändlerdörfer“, wie in Bayern zum Beispiel Mittenwald oder Dießen am Ammersee, waren im Sommer oft menschenleer. Da besonders die männliche Bevölkerung in diesen Monaten unterwegs war, fanden Hochzeiten nahezu ausschließlich im Januar und Februar statt. Geburten gab es dementsprechend hauptsächlich im Oktober und November. Denn: Ein Wanderhändler war oft den ganzen Sommer hindurch unterwegs, er kehrte nicht einfach um, sobald er seine Waren verkauft hatte. Büchner Das Problem ist - sie haben es ja schon sagt – mitnehmen: Selbst, wenn man die Kraxe voll hat. Man geht ja nicht gleich wieder nach Hause. [...] Man geht von zu Hause aus mit den heimischen Waren. Aber damit man nicht immer wieder gleich die Kraxe leer hat, wenn man kein Warenlager anlegen konnte, hat man im Ausland Waren zugekauft. Das wäre viel zu schlecht gewesen für den Verdienst, wenn man nur mit einer Kraxe rausgeht. […] Die haben sich alle im Ausland weiter eingedeckt und das mussten nicht dieselben Waren sein. Man geht mit Kurzwaren, mit Schnittwaren von Tirol aus und deckt sich in Nürnberg mit anderen Kurzwaren ein oder anderswo mit Spielzeug und geht dann weiter hausieren. SPRECHER Der Begriff „Hausieren“ beschreibt sehr deutlich die Eigenheit dieses Handels. Denn die meisten Kraxenträger haben sich nicht auf den Markt gestellt und gewartet bis ein Käufer zu ihnen kommt, sondern sind tatsächlich von Haus zu Haus gegangen, um ihre Waren zu verkaufen. Eine solch unökonomische Tätigkeit kennt man heute – in Zeiten von Kaufhäusern und Internethandel - nicht einmal mehr vom Staubsaugervertreter! Denn da Wanderhändler ja nicht nur in Städten unterwegs waren, lagen die Häuser oft sehr weit auseinander: Büchner In einem Jahr hatte so ein Kraxenträger leicht mal 700-800 Kilometer zurückgelegt. Die waren das gewohnt, und die sind ja zum Verkauf - als dann die Massenproduktion gekommen ist im 19. Jahrhundert – sind sie weitergezogen. Sie sind dann die abgelegensten Einödhöfe weiterhin gegangen. Wegen zwei, drei Kunden sind sie 20 Kilometer gegangen. SPRECHER Und dort wurden sie oft schon erwartet. Denn nicht jeder hatte die Möglichkeit in eine Stadt mit reichhaltigem Warenangebot zu fahren. Und in vielen Dörfern oder kleineren Städten gab es selbst Dinge des alltäglichen Bedarfs nicht immer zu kaufen. Das wussten die Kraxenträger und konnten somit zielgerichtet mit einem spezifischen Warenangebot all jene besuchen, die sie sehnlichst erwarteten. Büchner Es gibt kaum einen Krämer, einen Kraxenträger, der ein breites Warensortiment hat. Man hat sich schon spezialisiert. Aber wenn Sie so wollen, das reichte bei den Kraxenträgern von Kurzwaren - darunter sind etwa zu verstehen Nägel, Messer, Scheren, Nadeln, Knöpfe, Garn, Zwirn, Fingerhüte, Bleistifte, Tinte, Schnürsenkel, Borten, Seitenbänder und so weiter - über Haushaltswaren wie Glas und Tongeschirr, Töpfe und Pfannen. Ferner waren Kraxenträger unterwegs mit Decken, Strümpfen, Bettfedern, landwirtschaftlichen Geräten wie Sensen, Sicheln und Wettstein und meistens einfachem Schmuck, Paternoster - also Rosenkränze - Ringe, Ohrgehänge, Broschen, Ketten. Sie sehen, das ist ein ganz breites Spektrum. SPRECHER Doch auch Spezialwaren wie Barometer, Thermometer oder Ferngläser, die hauptsächlich im Friaul hergestellt wurden, trugen sie von Norditalien über die Alpen bis nach Bayern. Dort konnten sie dann Waren kaufen, auf die man sich in diesen Gegenden spezialisiert hatte. Wie zum Beispiel von den sprichwörtlichen „Herrgottsschnitzern“ aus Oberammergau, den Hinterglasmalern aus Murnau am Staffelsee oder den Uhrmachern im Schwarzwald. MUSIK SPRECHER Und auch den Vogelhändler gab es, wie wir ihn noch aus Mozarts Singspiel kennen. SPRECHER Manche Wanderhändler haben ihre Waren zum Teil selber hergestellt, wie Anton Adner, der im Anfertigen von Holzschachteln und wohl auch im Stricken einiges Talent zeigte. Doch die Meisten kauften ihre Waren bei lokalen Händlern – auf Reisen wäre das anders auch gar nicht rentabel gewesen. Da sie aber oft nicht genug Geld hatten, standen sie immer wieder in der Schuld dieser lokalen Händler: Büchner Oft ist es so, dass Kraxenträger auf Kredit gehandelt haben. […] Und wenn sie dann von ihrer Handelsreise zurückkamen, um im nächsten Jahr wieder auf Reise zu gehen, dann haben Sie erst mal die Altware, die sie verkauft hatten, bezahlt und neue wieder eingekauft. Kraxenträger sind eher die Ärmeren - besonders arm waren etwa unter den Kraxenträgern die Glashändler und die mit Tonwaren, also Küchengeschirr. Man hat ja gesagt: Wenn ein Glashändler hinfällt, steht dann ein Bettelmann wieder auf. SPRECHER Viele ortsansässige Händler rechneten mit diesen billigen Lieferdiensten und banden sie fest an sich. Wie zum Beispiel der Verleger Matthäus Rieger, der in Augsburg 1745 eine riesige Buchhandlung eröffnete. Der Schriftsteller Johann Pezzl schrieb über ihn: ZITATOR „Sein Verlag ist sehr dick und er hat dabei ein schönes Vermögen gesammelt. Er hält das ganze Jahr hindurch einige dreißig Kerle, die mit Butten auf den Rücken, oder mit Karren voll heiliger Sermone ganz Tirol, Bayern, Schwaben, Franken und Österreich durchstreifen und den gemächlichen Pfarrern das Futter für ihre geistliche Herde auf Jahre lang verkaufen. Es soll manchen alten Ruraldekan geben, der schon den ganzen Riegerschen Verlag durchgepredigt hat." SPRECHER Weniger an Pfarrer, mehr an das bäuerliche Volk wurden auch gerne Schriften wie frivole Gedicht- und Liederbüchlein oder religiöse und politische Traktate verkauft. Da durften dann gerne wieder die Frauen und Kinder übernehmen von Tür zu Tür zu gehen. Denn sollten sie aufgegriffen werden, so drohte ihnen eine mildere Strafe als den Männern, wenn sie solch „anstößige“ Literatur vertrieben! MUSIK SPRECHER Tatsächlich war der Kleinhandel mit Büchern, Bilddrucken oder Heiligenbildchen sehr gefragt. Schon im 17.Jahrhundert beschäftigte der in Padua geborene Giovanni Antonio Remondini mehrere Wanderhändler und baute so ein europaweites Handelsnetz aus, das farbenfrohe Drucke und kleine Bücher an die einfachen Leute brachte. Manchmal haben sich aber auch Wanderhändler selbst untereinander zusammengetan um gemeinsam ein Lager im Ausland zu finanzieren. Robert Büchner: Büchner Dann kamen Sie darauf: Sie können gemeinsam einkaufen und verkaufen. Und je nach der Einlage mussten sie die Unkosten tragen und wurden aber nach der Einlage auch am Gewinn beteiligt. Und aus diesen Warenlagern sind oft Handelsgesellschaften entstanden, die dann etwa in den Niederlanden - das konnte bis nach Spanien und so weitergehen - floriert haben. Das ist aber alles ursprünglich entstanden aus dem Zusammenschluss von Buckelträgern. […] Peek & Cloppenburg, das ist doch eine Bekleidungskette. Die sind aus ursprünglich Wanderhändlern, die mit Stoffen und Tuchen und Leinen und so weiter, unterwegs waren, entstanden. SPRECHER Doch so eine Karriere war den wenigsten vergönnt. Schon allein deshalb, weil die „Hausierer“ nicht immer gerne gesehen waren. So erließ zum Beispiel die Stadt München im Jahr 1690 ein Verbot „des Hausiererhandels“. In Landsberg am Lech wurde 1715 ein „Bettelverbot“ verabschiedet. Um die Jahrhundertwende 1800 gab es überall „Hausierordnungen“. So durfte in Österreich nur mit bestimmten Waren gehandelt werden; Arzneiwaren zum Beispiel wurden verboten – sowohl für Tier als auch für den Menschen. Ferner durften keine Wagen zum Transport benutzt werden. Ausschließlich Tragegeräte – also Kraxen – waren erlaubt. Die meisten Wanderhändler konnten sich mehr ohnehin nicht leisten – nicht einmal einen Schubkarren, der von einem Hund mitgezogen wurde. Denn auch das gab es. Büchner Die Kraxenträger stellen überhaupt die größte Gruppe unter den Wanderhändlern. Also die Leute, die mit Karren und mit Pferd und Wagen und Saumtieren zogen, sind deutlich in der Minderzahl gegenüber den Kraxenträgern. SPRECHER Besonders beim Kleinhandel über die Alpen war die Kraxe oft auch sinnvoller als ein Wagen. Denn die Wege waren oft schlecht und mit Wägen gar nicht zu befahren – oder sie blieben im Schnee stecken. Zudem konnte man beim Überschreiten eines hohen Alpenpasses auch Zoll- und Mautgebühren sparen. Wenngleich es natürlich Schwerstarbeit war, die mit den Jahren oft zu Rückengratverkrümmungen, Knochen-, Gelenk- oder Wirbelsäulenschäden führte. Büchner Und Kraxenträger haben die Männer in der Regel bis 50 Kilo getragen, die Frauen bis 30 Kilo. SPRECHER So eine Warenkraxe war demnach mehr als nur ein kleines Rückengestell. Denn man wollte ja möglichst viel transportieren. Büchner [...] bei uns war es üblich, dass der Kopf mitgetragen hat. Die Kraxe wurde bis über den Kopf gezogen und in Höhe des Kopfes war ein Riegel, ein Brett gepolstert, das direkt auf dem Kopf auflag. So hat der Kopf mitgetragen, nicht nur die Schultern. SPRECHER Die Form und das Material, aus dem die Kraxe gefertigt wurde, hing von den Waren ab, die ein Händler dabeihatte. Für Töpfe und Geschirr reichte oft ein grob geflochtener Korb aus. Vogelhändler stapelten die Käfige bis weit über ihren Kopf hinaus. Teppiche oder größere Drucke wurden einfach zusammengebunden und über die Schultern geworfen. Frauen benutzten oft ein Tragetuch. Und: Kleidung oder Hüte wurden auch schon mal selbst übereinander angezogen. Doch viele Kraxen waren kompliziert gebaute Gestelle aus verschiedenen Holzkisten. Etwa wenn mit ganz unterschiedlichen Waren gehandelt wurde. Denn die Kraxe stellte ja gleichzeitig den Verkaufsladen da. Büchner Ätherische Öle, Seifen, Balsam, Pulver, gebrannte Wässer und die Allheilmittel wie Theriak oder Vitridat. Das sind alles kleine Sachen, aber die konnte man nicht zusammen haben. Dann haben sie richtig kleine Schubfächer gehabt und haben die Sachen da rausgeholt. Genauso wenn sie mit Kurzwaren gehen: In einem kleinen Schubfach haben sie Nadeln, in einem anderen Zwirn und so weiter. Gerade bei Arzneien und Olitheken sehen Sie immer die Kraxenhändler mit solchen Kästen auf den Rücken. Das ist kein einfaches Gestell mehr. MUSIK SPRECHER Die Zeiten wurden immer schwerer für die Wanderhändler, besonders, wenn sie aus dem Ausland kamen. Wer im frühen 19. Jahrhundert in Österreich einen „Hausierpass“ erwerben wollte, der musste mindestens 20 Jahre alt sein und die Österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Dadurch dachte man zumindest die ausländischen Wanderhändler in ihrer ständig steigenden Zahl einzuschränken. Doch oft gab es diese Regeln nur auf dem Papier, um die ortsansässigen Händler zu beschwichtigen. Tatsächlich wurden Verstöße von der Obrigkeit selten geahndet. Denn die Kraxenträger behoben einfach ein Versorgungsdefizit: Sie befriedigten Bedürfnisse, die die sesshaften Kaufleute schuldig blieben. SPRECHER Doch außer bei ihrer Kundschaft waren die Kraxenträger alles andere als beliebt. So wurde Ihnen oft nachgesagt, sie schleppten Krankheiten wie Cholera oder Typhus ein, sie hätten geklaut oder sie verdürben die Sitten – wie das der konservative Jurist und Literat Justus Möser in seinen „Patriotischen Phantasien“ schon im Jahr 1775 in einer „Klage wider die Packenträger“ behauptete. ZITATOR Die Packenträger sind der Verderb des ganzen Landes. Wer hat die guten Sitten verderbt? Gewiss niemand mehr als der Packenträger, der mit seinen Galanteriewaren nicht auf den Heerstraßen, sondern auf allen Bauernwegen wandelt, die kleinsten Hütten besucht, mit seinem Geschwätz Mutter und Tochter horchend macht, ihnen vorlügt, was diese und jene Nachbarin bereits gekauft. Er hat von allem was sich für jeden Stand passt und weiß einer jeden gerade das anzupreisen, was sich am besten für sie schickt. Das Vermögen aller Familien ist ihm bekannt; er weiß wie die Frau mit dem Manne steht, und nimmt die Zeit wahr, jene heimlich zu bereden, wenn der grämliche Wirt nicht zu Hause ist. Kurz, der Packenträger ist der Modekrämer der Landwirtinnen, und verführt sie zu Dingen, woran sie ohne ihm niemals gedacht haben würden. SPRECHER Den sesshaften Händlern waren die Kraxenträger mehr als nur ein Dorn im Auge. Ihnen ging es schlichtweg darum, die unliebsame Konkurrenz loszuwerden. Und deswegen gab es auch allerlei üble Nachrede. Professor Robert Büchner: Büchner Sie haben behauptet, sie hätten falsches Maß und Gewicht. Das hatten sie selbst wahrscheinlich noch öfter. Sie hätten schlechte, und verfälschte Ware. Ein Trick war zum Beispiel bei den Tuchhändlern: Es gab begehrte Tücher - etwa aus Brabant. Und ab einer gewissen Zeit bekamen die eine Plombe. Jetzt haben sie einfaches Tuch gekauft und haben die falsche Plombe drangemacht. SPRECHER Im Grunde gibt es das heute auch noch. Nur die nachgemachten Rolex-Uhren, Adidas-Turnschuhe und vermeintlichen Designerkleider werden heutzutage industriell hergestellt und weltweit im Internet vertrieben. Büchner Oder ein anderer Trick bei den Tuchhändlern war: Man spannt das Tuch auf einen Rahmen, macht es nass und dehnt es. Dann schindet man wieder ein paar Zentimeter raus. Natürlich haben das aber auch die stationären Händler gemacht. Ich habe mal ausführlich darüber geschrieben. Und man kann absolut nicht sagen, dass die Wanderhändler mehr geschummelt hätten - um es höflich auszudrücken - als die lokalen Händler. SPRECHER Das war schon allein deswegen nicht möglich, weil sie sich ihr Geschäft damit kaputt gemacht hätten. Büchner Denn man muss sich vorstellen, diese Kraxenträger gingen alljährlich fast dieselben Bezirke ab. Sie hatten ihre Stammkunden, die konnten sie gar nicht betrügen, denn dann wären sie diese Kundschaft los gewesen. MUSIK SPRECHER Mit zunehmender Industrialisierung, der steigenden Mobilität – auch ländlicher Bevölkerungen – und dem Beginn der Massenproduktion im 20.Jahrhundert erledigte sich der Wanderhandel mit Kraxe auf dem Rücken von selbst. Wer heute etwas benötigt, bestellt immer öfter im Internet. Kurz darauf steht dann schon der Bote mit seinem Lieferwagen vor der Tür ... oder auch der moderne Kraxenträger: der Radler, der auf seinem Rücken die Pizzakisten ausfährt.…
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Alles Geschichte - History von radioWissen
1 ARBEITEN UND LEBEN IN DER FREMDE - Wanderarbeit seit der Antike 22:41
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22:41Die Pyramiden hätte es ohne Wanderarbeit nie gegeben. Bis heute sind ganze Wirtschaftszweige auf Menschen angewiesen, die oft von weit her kommen. Von Susanne Hofmann (BR 2021) Credits Autorin: Susanne Hofmann Regie: Anja Scheifinger Es sprachen: Christian Baumann, Katja Bürkle, Christian Schuler Technik: Christiane Gerheuser-Kamp Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Willi Kulke, Lars Petersen Besonderer Linktipp der Redaktion: MDR (2025): Iron East – Heavy Metal im Osten Heavy Metal war in der DDR eine besonders laute und pulsierende Subkultur. Mit dem Mauerfall änderte sich für diese Metal-Szene alles. Fans reisten in den Westen, um ihre Ikonen auf der Bühne zu sehen. Ost-Metal-Bands bekamen Konkurrenz. Und der DDR-Metal wurde Teil von etwas Größerem. Wie ging es in den 90er Jahren mit dem Ost-Metal weiter? Und was ist heute noch davon geblieben? Darum geht es in der zweiten Staffel Iron East – Heavy Metal im Osten. Host und Autor Jan Kubon begibt sich auf eine Zeitreise durch die 90er und Nullerjahre in Ostdeutschland. Dabei spricht er mit vielen Ost- und auch West-Metal-Größen: Mit Kerstin Radtke von Blitzz und Sabina Claaßen von Holy Moses, mit Eric und Ingo von Subway to Sally und mit Maik Weichert von Heaven Shall Burn. ZUM PODCAST Linktipps: hr (2024): Magie & Medizin – die Geheimnisse des Papyrus Ebers Der Papyrus Ebers ist mit seinen etwa 3.500 Jahren das älteste, vollständig erhaltene Medizinhandbuch der Welt. Auf 18,6 Metern wurden hier im alten Ägypten Rezepte niedergeschrieben, unter anderem gegen Haarausfall, Husten oder Verdauungsprobleme. Als sich Georg Ebers 1872 auf die Suche nach der Schriftrolle macht, ist ihre Existenz fraglich und ihr sensationeller Zustand nur ein Gerücht. Der Film begleitet den Ägyptologen bei seinem Abenteuer und erzählt dazu die fast vergessene Geschichte eines königlichen Schreibstoffes, der jahrtausendealtes Wissen zugänglich und heute anwendbar macht. JETZT ANSEHEN radioWissen (2024): Söldner – Geschichte der Schattenarmeen Der Krieg ist ihr Handwerk. Doch sie kämpfen nicht als Soldaten für ihr Land, sondern gegen Sold, also gegen Bezahlung, für eine fremde Macht. Das Söldnertum besteht schon seit langem. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ERZÄHLER Nach der sengenden Hitze des Tages legt sich die kühlende Nacht über das Land, diesen südlichsten Teil der ägyptischen Wüste. Beinahe lautlos gleitet das Boot des deutschen Ägyptologen Johannes Dümichen den Nil entlang, der Mond erhellt die zerklüfteten Felsen am Ufer in dieser Sommernacht des Jahres 1869. Fasziniert lässt der Reisende seinen Blick schweifen – und traut seinen Augen nicht: ZITATOR „War es Täuschung oder Wirklichkeit? … Wir kamen näher und ich konnte nun die Erscheinung in ihrer ganzen Grossartigkeit, konnte die riesenhafte Gestalt, wie die der anderen, ganz ebenso gebildeten neben ihr, deutlich übersehen, wie sie, mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, die Hand auf das Knie gestützt, in imposanter Ruhe dasassen und auf den Strom zu ihren Füssen herniederschauten.“ ERZÄHLERIN Vier gigantische Statuen. Sie sitzen vor dem Felsentempel Ramses des Zweiten in Abu Simbel. Gut 20 Meter ragen sie in die Höhe. Ein Monument, das vom Selbstbewusstsein des Pharaos zeugt, der sich vor mehr als 3.000 Jahren in diesen Statuen verewigen ließ: Ramses der Große. Seine größte Errungenschaft ist jedoch nicht die Vielzahl imposanter Bauwerke, die er hinterlässt. Die Ägypter verdanken ihm eine nie dagewesene Blütezeit, ein halbes Jahrhundert in Wohlstand und Frieden. ERZÄHLER Denn Ramses gelingt die Aussöhnung mit den Erzfeinden Ägyptens, den Hethitern. Die Herrscher beider Länder schließen den ersten erhaltenen schriftlichen Friedensvertrag der Geschichte, und beide Höfe nehmen einen regen Austausch auf, schildert der Ägyptologe Lars Petersen. Er arbeitet am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe. 1. ZUSPIELUNG Petersen (09:20) „Man will dann ja auch sich weiterhin gut vertragen. Und dazu gehörten dann natürlich Prestigeobjekte und wertvolle Geschenke, die dann von beiden Seiten ausgetauscht worden sind.“ ERZÄHLERIN Bei diesen diplomatischen Beziehungen spielt eine Personengruppe eine besondere Rolle: ägyptische Ärzte, die die damalige Welt in Erstaunen versetzen. Für Lars Petersen sind diese ägyptischen Ärzte die ersten Wanderarbeiter der Antike, von denen man sicher weiß. Wanderarbeiter - also Menschen, die, so die Definition des Duden, ihren „Arbeitsplatz weit entfernt von ihrem Wohnort aufsuchen“ müssen. Der Ägyptologe Lars Petersen: 2. ZUSPIELUNG Petersen (09:20) „Weil diese ägyptischen Ärzte so bedeutend waren, hat dann der hethitische Herrscher darum gebeten, dass für eine Zeit die Ärzte zu ihm kommen, um da auch die Bevölkerung medizinisch zu versorgen - also die ganze Bevölkerung wahrscheinlich nicht – das ist dann der Königshof gewesen. Also die ägyptische Medizin war in der Zeit sehr, sehr fortschrittlich, man hatte erste chirurgische Eingriffe, die für die damalige Zeit, das ist ja 3.300 Jahre her, so bedeutend waren, dass sich die gesamte damalige Welt die Hände nach ihnen geleckt hat, um auch die an ihren Hof zu bekommen.“ ERZÄHLER Allerdings dürfte die zeitweilige Betätigung am hethitischen Hof nicht wie bei den späteren und heutigen Wanderarbeitern aus ökonomischer Notwendigkeit erfolgt sein, so Petersen, sondern im Rahmen eines Austausches im Dienste der Diplomatie. ERZÄHLERIN Die ägyptischen Ärzte waren hoch spezialisiert, davon zeugen Papyrus-Quellen. Sie praktizierten beispielsweise als Augen-, Zahn- oder Ohrenärzte. Und Untersuchungen der erhaltenen Mumien mit den Mitteln der Endoskopie und der Computertomographie haben ergeben: Die ägyptischen Chirurgen konnten sogar Amputationen vornehmen und Prothesen einsetzen – eine Kunst, die in anderen Kulturen damals wahrscheinlich unbekannt war. Der Ägyptologe Petersen ist überzeugt, dass diese frühen Wanderarbeiter, … 3. ZUSPIELUNG Petersen 12:04 „… die Fachkräfte der damaligen Zeit dann natürlich ihre Techniken und ihr Wissen auch weitergegeben haben. Und so hat sich natürlich auch die gesamte antike Welt immer auch weiterentwickelt. … Für einen Ägypter war es sehr, sehr wichtig, von seiner Religion her, dass er wieder zurück kehrt nach Ägypten, … dass er, wenn er verstirbt, in der Erde Ägyptens nahe beim Nil bestattet wird … Deshalb wissen wir auch, dass diese ägyptischen Ärzte auch wieder zurück nach Ägypten kamen.“ MUSIK ERZÄHLER Ebenfalls im antiken Ägypten finden sich erste Spuren einer weiteren Gruppe historisch bedeutsamer Wanderarbeiter: Als Anfang des 19. Jahrhunderts europäische Abenteuerreisende die monumentalen Ramses-Statuen im ägyptischen Abu Simbel wiederentdecken, machen sie an den Figuren eine spannende Beobachtung. Lars Petersen: 4. ZUSPIELUNG Petersen 21:00 „Die waren ganz erstaunt, dass sie neben den ägyptischen Hieroglyphen auch griechische Inschriften gefunden haben, also keine offiziellen Inschriften, die wirklich gezielt in Stein gemeißelt waren, sondern wie heute, so Graffiti, also „I was here“. ERZÄHLERIN Die griechischen „Graffiti“ geben den Archäologen zunächst Rätsel auf. Wie haben sich Griechen nach Ägypten verirrt, mehrere Tausend Kilometer südlich ihrer Heimat? 5. ZUSPIELUNG Petersen 21:00 „Da haben sich griechische Söldner, die unter einem bestimmten Pharao tätig waren, nämlich dem Pharao Psammetich dem Zweiten im sechsten Jahrhundert, die haben sich da verewigt, und die haben dann quasi so aufgeschrieben ihren Namen und ihre Kompagnie und unter wem sie gedient haben. Die müssen da irgendwie eine Rast gehalten haben.“ ERZÄHLER Griechische Söldner sind ab 600 vor Christus im östlichen Mittelmeerraum überaus gefragt – nicht nur bei den ägyptischen Herrschern. In der Region kommt es immer wieder zu militärischen Konflikten, gute Kämpfer sind gefragt. In den Quellen werden die griechischen Söldner „eherne Männer“ genannt, in Anspielung auf ihre Rüstung und ihre Waffen, die aus Eisen geschmiedet sind, so Lars Petersen: 6. ZUSPIELUNG Petersen 24:47 „Die waren sehr gut ausgebildet, aber auch ausgerüstet, und das war vor allem das, was man schätzte. Die kamen mit Sack und Pack, also die hatten ihre Rüstung, ihre selbstgeschmiedeten oder die sie sich haben fertigen lassen, die sie natürlich gut schützten. Sie hatten präzise, gute Waffen, die sie selbst verwendeten, und die einfach dann den Gegnern überlegen waren. … also das muss wohl so eine richtige Eliteeinheit gewesen sein, … vielleicht so etwas wie die französische Fremdenlegion, die bestimmte Aufgaben dann im Militärdienst in Ägypten übernommen haben.“ MUSIK ERZÄHLERIN Für ihre Dienste unter fremden Herrschern und in fremden Regionen werden diese frühen militärischen Wanderarbeiter fürstlich entlohnt. In Ägypten erhalten sie pures Gold. Dafür müssen sie allerdings auch fern der Heimat kämpfen, und manch einer muss in der Fremde auch sein Leben lassen. ERZÄHLER Daheim ist das Ansehen von Söldnern eher gering, sie gelten als Außenseiter, leben meist abseits der Polis. Aber oft sehen Männer keinen anderen Ausweg: Die Bevölkerung Griechenlands wächst und im gebirgigen Land werden die Lebensmittel knapp. Viele Männer müssen sich anderswo nach einer Lebensgrundlage umschauen und entscheiden sich oft für ein Leben als Söldner auf fremden Territorien. MUSIK ERZÄHLERIN Im gleichen Zeitraum, um 500 vor Christus, sind andere frühe Wanderarbeiter dokumentiert: Im antiken Persien entsteht die heutige Weltkulturerbe-Stätte Persepolis, die Stadt der Perser. Eine riesige, prachtvolle Palast- und Tempel-Anlage. Erbauen ließen sie die persischen Großkönige, so Lars Petersen: 7. ZUSPIELUNG Petersen „Die haben wirklich gezielt aus ihren neuen Provinzen oder Satrapien, so hieß es bei den Persern, haben die sich dann die interessanten Leute geholt. Also da gibt es …Quellen aus Persepolis, die dann sagen: Auf unserer Baustelle des Königspalastes haben 200 Ägypter und 200 Syrer gearbeitet… teilweise Namen und die Gehaltsforderungen und was die bekommen haben und was die auch gemacht haben - also das waren Steinmetze, das waren Holzhandwerker, also Schreiner, die auf diesen Baustellen dann auch gearbeitet haben, und dann wahrscheinlich auch wieder in die Regionen zurückgegangen sind, wo sie ursprünglich herkamen.“ ERZÄHLER Auch für das römische Reich ist der Einsatz diverser Wanderarbeiter verbürgt. Insbesondere in der Landwirtschaft waren sie gang und gäbe. Zu Erntezeiten waren Kolonnen von Erntehelfern aus anderen Regionen für Großgrundbesitzer tätig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. ERZÄHLERIN Schon die frühen Wanderarbeiter kommen bei Tätigkeiten zum Einsatz, die besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern – und, wenn die heimische Bevölkerung nicht damit dienen kann oder will. Der Historiker Willi Kulke, der das Industriemuseum in Lage leitet, hat dem Phänomen der Wanderarbeit in Geschichte und Gegenwart eine Ausstellung gewidmet. Er ist davon überzeugt: Wanderarbeiter gab es schon immer. 8. ZUSPIELUNG Kulke 1:39 „Es gab immer schon Gegenden, in denen Mehrbedarf war an Arbeit, und wo weniger Bedarf war und Wanderarbeit ist ganz häufig auch davon bestimmt, dass die Arbeit nur saisonal anliegt. … in der Landwirtschaft gibt‘s ganz viele Bereiche, die nie existieren würden, … ohne dass Menschen aus Gegenden kommen, in der sie noch weniger verdienen und die deswegen ein Interesse daran haben, für einen bestimmten Zeitraum auch in der Fremde zu arbeiten.“ MUSIK ERZÄHLER Gerade im Mittelalter gab es viele Handwerker, die davon lebten, mit ihrem Leiterwagen über Land von Ort zu Ort zu ziehen, um den Menschen ihre Dienste und Waren anzubieten. Viele waren gezwungen, längere Zeit auf der Straße zu leben, sie schliefen in Schuppen oder Unterständen. Liefen die Geschäfte schlecht, waren sie auf Almosen angewiesen. Kesselflicker, Bürstenbinder, Scherenschleifer, genauso wie etwa auch Hausierer – alle zählen zum fahrenden Volk. Viele von ihnen sind Juden, Sinti und Roma, die sich nicht in den Städten niederlassen dürfen und von den Zünften ausgeschlossen sind. Der Historiker Willi Kulke: 9. ZUSPIELUNG Kulke 12:12 „Das waren vor allen Dingen Berufe, die in der Menge in der Stadt nicht gebraucht wurden – so ein Kesselschmied, der konnte ein ganzes Jahr nicht davon in einer Stadt leben. Genauso wenig ein Scherenschleifer, … der zog durch ein bestimmtes Gebiet und war halt eins, zwei, vielleicht auch viermal im Jahr in den entsprechenden Dörfern für einen Tag oder zwei, verrichtete seine Arbeit, aber dann war das auch erledigt mit der Menge der Scheren und Messer, die entsprechend nachzuschleifen waren, und er zog weiter in den nächsten Ort nach. Also bei diesen Berufen ist es vor allen Dingen ein Gewerbe, bei dem die Nachfrage in den einzelnen Orten nicht so groß war, zum anderen aber auch eine gewisse Fachkenntnis notwendig war, um Messer, Scheren entsprechend richtig zu schleifen oder einen Kupferkessel also wirklich wieder dicht zu bekommen, der unter Umständen durchgescheuert war oder aus anderen Gründen Löcher bekommen hatte.“ MUSIK ERZÄHLERIN Diese Wanderhandwerker und-kaufleute decken Nischen ab, die die ansässigen Handwerker und Kaufleute nicht bedienen. So bieten die Hausierer ein buntes Sortiment an Kurzwaren, Tüchern, Bändern, Kerzen, aber auch Tee, Kaffee oder Schmuck an. Die niedergelassenen Krämer betrachten sie oft als lästige Konkurrenz, sie werden als arbeitsscheu und sittlich verdorben verunglimpft. So heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 1769: ZITATOR „Sie betrügen den geringen Mann nicht nur mit schlechten Waren und übersetzen ihn im Preise, sondern bestehlen ihn auch noch manchmal dazu. Sie verführen die Weiber zu unnützer Pracht und Üppigkeit; sie schleppen ihnen heimlich Kaffee und starke Getränke zu, und verleiten sie gar oftmals zu andern Ausschweifungen.“ ERZÄHLER Die Dienste der umherziehenden Hausierer und Handwerker werden zwar benötigt, dennoch müssen sie eher am Rande der Gesellschaft leben, so der Historiker Willi Kulke. Man beäugt sie mit Argwohn. Fehlt irgendwo ein Silberlöffel, fällt der Verdacht schnell auf diese wandernden Arbeiter. 10. ZUSPIELUNG Kulke 13:31 „Es waren halt Menschen, von denen man nicht so genau wusste, wo sie herkamen, wo sie lebten, wie sie lebten. … Das war dieser Makel der unehrenhaften Handwerker, Gewerke oder Gewerbe, die halt eben nicht wie ein Kaufmann oder ein Tischler oder ein Schumacher fest am Ort etabliert waren und entsprechend anerkannt. So waren halt eben Scherenschleifer, Kesselflicker oder andere halt schon eher ein unehrbares Handwerk.“ 11. ZUSPIELUNG Museum (mit Musik) ERZÄHLERIN Das Ziegelei-Museum Lage. Eine eigene Ausstellung ist hier einer besonderen Gruppe von Wanderarbeitern aus dem westfälischen Lippe gewidmet. Die lippischen Wanderziegler haben vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur ihre Heimat-Region geprägt, sagt der Leiter des Ziegeleimuseums, Willi Kulke. 12. ZUSPIELUNG Kulke „Ich würde einfach mal so vereinfacht sagen: Die Lipper haben Berlin aufgebaut. Die saßen in Glindow, Zehdenick rund um Berlin und haben Millionen von Ziegeln produziert, mit denen dann später diese riesen Mietskasernen mit drei, vier bis zu sieben Hinterhäusern entstanden, mit denen große Fabriken entstanden – und ohne die Lipper wäre diese Industrialisierung so nicht möglich gewesen, weil sie den Baustoff lieferten eben dafür.“ ERZÄHLER Am Anfang ist die Not. Im damaligen Fürstentum Lippe leben die meisten Menschen von der Handspinnerei und -weberei in Heimarbeit. Mit dem Aufkommen der Textilfabriken ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlieren sie ihr Einkommen. Die Landwirtschaft wirft zu wenig ab, um die ganze Bevölkerung davon zu ernähren. Da bietet der Bauboom in Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen den arbeitssuchenden Lippern eine Chance. Der Historiker Willi Kulke: 13. ZUSPIELUNG Kulke 7:56 „Die schaffen einen Baustein, einen von vielen, um Industrialisierung in Deutschland überhaupt möglich zu machen. … Und da konnte man aber auch nur Wanderarbeiter gebrauchen, weil Ziegel kann man nur von März bis Oktober herstellen, danach es zu kalt und friert dieser Lehm. Und es ist nicht möglich, also Steine zu formen, die nicht wieder auseinanderbröseln. Dafür braucht man dann Wanderarbeiter, die bereit sind, genau das tun, in einer bestimmten Saison zu arbeiten und dann das Land aber auch wieder zu verlassen oder die Gegend wieder zu verlassen, weil man sie nicht haben wollte, wenn sie keine Arbeit hatten.“ ERZÄHLERIN In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beschreibt Theodor Fontane 1873 das arbeitsame Leben der lippischen Wanderarbeiter vor den Toren Berlins: ZITATOR „Die Lipper, nur Männer, kommen im April und bleiben bis Mitte Oktober. Die Leute sind von einem besonderen Fleiß. Sie arbeiten von drei Uhr früh bis acht oder selbst neun Uhr abends, also nach Abzug einer Eßstunde immer noch nah an siebzehn Stunden. Sie verpflegen sich nach Lipper Landessitte, das heißt im wesentlichen westfälisch. Man darf sagen, sie leben von Erbsen und Speck, die beide […] aus der lippeschen Heimat bezogen werden, wo sie diese Artikel besser und billiger erhalten. Mitte Oktober treten sie, jeder mit einer Überschußsumme von nahezu 100 Talern, den Rückweg an […].“ MUSIK ERZÄHLER In geschlossenen Gruppen fahren die Wanderziegler mit der Bahn jedes Frühjahr in die Fremde, um dort auf den Ziegeleien in Akkordarbeit ihr Geld zu verdienen. Vor allem die Familienväter schicken den Großteil ihres kargen Lohns sofort zurück in die Heimat, behalten nur ein kleines Taschengeld für sich. Die finanzielle Lage der Ziegler bessert sich erst in den 1920er Jahren – da können sich einige den Luxus eines eigenen Fahrrads oder Radios leisten, allerdings nur, wenn sie dafür monatelang eisern sparen. ERZÄHLERIN Die Männer werden in der Fabrik angelernt und eingearbeitet, jeder spezialisiert sich auf eine bestimmte Tätigkeit in der Produktion – sei es als Tongräber, Former oder Brenner. Bei schlechtem Lehm, Krankheit oder Unfällen müssen alle den Verlust tragen. ERZÄHLER Meist leben zwei Dutzend Arbeiter zusammen in einem Wohnhaus, manchmal auch nur in einer einfachen, spartanisch eingerichteten Bretterbude, immer jedoch in unmittelbarer Nähe zur Fabrik mit dem Ziegelofen. Immer wieder kommt es deshalb zu Bränden. Die Männer teilen sich einen Schlafsaal, jeder hat eine einfache Bettstatt, als Unterlage dient ein mit Stroh gefüllter Leinensack. Oft werden die Jüngsten, vielfach erst 14-Jährigen, abstellt zum Kochen, später leisten sich viele Mannschaften eine Haushälterin. Die Mahlzeiten nehmen sie gemeinsam ein. Man bildet eine Ersatzfamilie, hat kaum Kontakt zur Außenwelt -das schweißt zusammen. ERZÄHLERIN Die Familie bleibt während dieser Monate zuhause. Die meisten Frauen bewirtschaften einen kleinen Hof, halten Hühner und vielleicht ein Schwein, bauen Gemüse an, ziehen die Kinder groß und müssen zum Teil für die Pacht ihres Hofes beim Großbauern arbeiten. Ein richtiges Familienleben, einen Alltag, den Frau und Mann teilen, findet nur im Winter statt. Kontakt halten sie während der Monate der Trennung über Briefe, immer wieder bekommen die Wanderziegler auch ein Stück Schinken oder Speck aus der Heimat geschickt. Der Lohn für die Zieglerarbeit soll schließlich am Ende der Saison möglichst vollständig in den gemeinsamen Haushalt fließen. ERZÄHLER Die Hochphase der Wanderarbeit der lippischen Ziegler endet nach dem Ersten Weltkrieg. In Lippe entwickelt sich eine eigene Industrie und die Ziegler werden zunehmen durch Maschinen ersetzt. ERZÄHLERIN Und heute? Heute sind weltweit ganze Wirtschaftszweige auf Wanderarbeiter angewiesen – Menschen, die ihrer Heimat vorübergehend oder regelmäßig für etliche Monate oder Jahre den Rücken kehren, um dorthin zu ziehen, wo es Arbeit und ein Auskommen für sie gibt. Viele von ihnen werden ausgebeutet und wie Sklaven behandelt. China: Abermillionen von Chinesen ziehen durch das riesige Land und ermöglichen dort unter härtesten Arbeitsbedingungen den gigantischen Bauboom. Indien: Rund 40 Millionen Wanderarbeiter kommen vom Land in die Städte, um dort meist als Tagelöhner in Fabriken, auf dem Bau oder für Transportunternehmen zu schuften. Unzählige leben in den Slums buchstäblich von der Hand in den Mund, etliche schlafen auf der Straße. ERZÄHLER Deutschland: Altenpflegerinnen aus Osteuropa stemmen ein Gros der häuslichen Pflege hierzulande; sie leben im Haushalt mit den Pflegebedürftigen, um die sich für einen kargen Lohn kümmern, fern der eigenen Familie in der Heimat. Spanien: Ein Heer an Saisonarbeitern schwärmt alljährlich auf die Felder, um Salat zu pflanzen, Melonen und Tomaten zu ernten oder Spargel zu stechen. ERZÄHLERIN In Europa arbeiten die Saisonarbeitskräfte zum Mindestlohn – zumindest auf dem Papier. Doch immer wieder ziehen die Arbeitgeber einen großen Anteil ab und behalten ihn ein – für die Verpflegung, Arbeitsgeräte und die Unterbringung; eine Unterbringung, oft in einfachen Containern oder überfüllten Sammelunterkünften. Gewerkschaften kritisieren die Arbeitsbedingungen als Sklaverei: Oftmals muss ohne Ruhetage durchgearbeitet werden, Zehn-Stunden-Tage sind bei der körperlichen schweren Arbeit keine Ausnahme. Die Betriebe müssen für die Arbeiter während eines Zeitraums von drei Monaten keine Sozialabgaben zahlen. MUSIK ERZÄHLER Auch wenn der Auszug in die Fremde quer durch die Geschichte sicherlich abenteuerliche Aspekte hat - als schiere Wanderslust ist das Massenphänomen der Wanderarbeit nicht zu erklären. Freiwillig lassen die wenigsten ihr Zuhause und ihre Familie zurück, um der Arbeit nachzuwandern. Davon ist Willi Kulke überzeugt. Der Arbeit wegen zeitweise oder langfristig seiner Heimat den Rücken zu kehren, bedeutet für die Menschen schließlich den Sprung ins kalte Wasser, das Kappen von gewachsenen Beziehungen und den Verlust der Heimat. Für viele eröffnet Wanderarbeit aber auch eine Perspektive, oftmals die einzige. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geändert. 14. ZUSPIELUNG Kulke 10:32 „Solange, wie Menschen arm sind irgendwo und Arbeit suchen, wird es immer Wanderarbeit geben. Und genauso wird es immer das Bedürfnis geben, für einen bestimmten Zeitraum möglichst billige Arbeitskräfte anzuwerben, die Dinge tun, die die heimische Gesellschaft selber so nicht tun will, so wie sie heute fast niemanden mehr finden, der bereit ist, für diese Löhne Erdbeeren zu pflücken oder Spargel zu stechen. … Solange wie keine gerechten, also wirklich auskömmliche Löhne dafür gezahlt werden für eine wirklich sehr, sehr schwere körperliche Arbeit, solange wird man immer andere Arbeitskräfte anwerben, die oft aus eigener Not halt eben bereit sind, jetzt zum Beispiel aus der Ukraine zu kommen, um hier Spargel zu stechen.“…
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Ganz typische Verhaltensweisen rund ums Essen gibt es in fast jeder Familie - dass man zum Beispiel als Kind immer seinen Teller leer essen sollte. So war es jedenfalls bei Iska Schreglmann. Als ihre Mutter stirbt und sie die Wohnung ausräumt, fällt Iska ein Kochbuch von 1871 in die Hände. Als sie erfährt, dass ihre Eltern als Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg hungern mussten, beginnt sie zu recherchieren: Was hat das rätselhafte Kochbuch mit dem Hungerwinter von 1946/47 zu tun? Und was mit ihr selbst - etwa damit, dass sie immer alles aufessen musste? ZUM PODCAST…
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1 DER PANAMAKANAL - Eine Großbaustelle der Geschichte 22:11
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22:11Ein Kontinent wird in der Mitte durchgeschnitten und eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt entsteht. Die Geschichte des Panamakanals von seinem Baubeginn 1881 bis zu seiner Übergabe an Panama 1999 ist dramatisch: Es gab Tausende von Toten, Putschversuche, Machtkämpfe und militärische Konfrontationen. Von Klaus Uhrig (BR 2019) Credits Autor: Klaus Uhrig Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Jerzy May Technik: Roland Böhm Redaktion: Nicole Ruchlak Linktipps: Im laufenden Betrieb - Tunnelbau unter der Großstadt Planet Wissen | ARD alpha Bauingenieure wissen häufig nicht, auf welche Überraschungen sie im Untergrund stoßen werden. Fundamente von Wohn- und Geschäftshäusern müssen gesichert werden. Tunnelbau unter der Großstadt ist eine komplexe technische Herausforderung. (Verfügbar bis 11.02.2024) JETZT ANSEHEN Emily Warren Roebling vollendet die Brooklyn Bridge Frauengeschichte – Frauen schreiben Geschichte | ARD alpha Der deutsche Einwanderer John August Roebling entwarf die berühmte Hängebrücke, verunglückte aber tragisch. Sein Sohn Washington und dessen Frau Emily führten seine Mission fort und betraten dabei technisches Neuland. Ihr gelang es schließlich, die Brücke fertigzustellen. ZUM BEITRAG Brücken dieser Welt Von Seilen und Bögen | ARD alpha BILDERGALERIE ANSEHEN Und hier noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Kinder der Flucht – Frauen erzählen Podcastserie mit 4 Folgen | ARD Audiothek Was bedeutet es, die Heimat zu verlassen? Wie kann das Ankommen gelingen? Shahrzad Osterer präsentiert die bewegenden Geschichten von vier Frauen und Müttern, deren Leben von einer Flucht geprägt wurde. JETZT IN DER ARD AUDIOTHEK HÖREN Außerdem ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN .…
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1 MUSSOLINIS ENDE – Der italienische Widerstand 23:00
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23:00Für ihre Gegner waren sie "banditi" und "ribelli", für die meisten Landsleute Helden: Rund 300.000 italienische Widerstandskämpfer führen aus dem Untergrund einen Guerillakrieg und bekämpften in den letzten Kriegsjahren die deutschen Besatzer und deren italienischen Vasallen.Von: Christiane Büld-Campetti (BR 2020) Credits Autorin: Christiane Büld Campetti Regie: Martin Trauner Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann, Jerzy May Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Matthias Durchfeld, Giacomo Notari, Giacomina Castagnetti Linktipps: hr (2024): Verräterkinder – Die Töchter und Söhne des Widerstands Die Männer des 20. Juli 1944 werden heute verehrt als Helden, die ihr Leben im Widerstand gegen Hitler geopfert haben. Für ihre Kinder ist der gewaltsame Tod des Vaters eine Katastrophe, an deren Folgen sie bis in die Gegenwart zu tragen haben. JETZT ANSEHEN SWR (2022): Zivilcourage im Nationalsozialismus Sophie und Hans Scholl - diese Namen kennt jeder. Doch 75 Jahre später beginnen Historiker, sich auch mit kleineren Formen des Widerstands im Nationalsozialismus zu beschäftigen: Ein verweigerter Hitler-Gruß, ein übermaltes Propaganda-Plakat. - Was zeichnet den Widerstand aus und wie groß war er? Von Birgit Bernard und Michael Kuhlmann (SWR 2021). JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO Bella Ciao instrumental MUSIK SPRECHERIN Am 8. September 1943 um 19 Uhr 45 unterbricht der italienische Rundfunk sein Programm für eine Ankündigung des Regierungschefs Pietro Badoglio. O-Ton 01 Originalausschnitt RAI-Archiv ZITATOR OV Die italienische Regierung hat angesichts der Unmöglichkeit, den ungleichen Kampf gegen die überwältigende gegnerische Macht fortzuführen und um weiteres Unheil von der Nation abzuwenden, General Eisenhower, den Oberkommandierenden der alliierten Streitkräfte, um einen Waffenstillstand gebeten. Dem Gesuch wurde stattgegeben. SPRECHERIN 400 Kilometer Luftlinie weiter nördlich verfolgt der 17-jährige Giacomo Notari in seinem Heimatdorf im tosco-emilianischen Apennin die Rede am Radio. O-Ton 02 Giacomo Notari ZITATOR OV Wir haben der Nachricht vom Waffenstillstand zunächst keine große Bedeutung beigemessen. Wir lebten schließlich in den Bergen des Apennins, weit weg von Krieg und Bomben. Wir machten deswegen erst einmal weiter wie gewohnt. MUSIK SPRECHERIN Doch schon bald wird sich auch für Giacomo Notari alles ändern. Denn Deutschland besetzt Nord- und Mittelitalien, schafft dort einen faschistischen Bündnisstaat und aus dem Bauernjungen wird ein Partisan. O-Ton 03 Matthias Durchfeld Ein Partisan ist jemand, der – wie das Wort sagt - eine Position einnimmt. Der auf einer Seite steht, eben auf einem pars. Ein Partisan ist jemand der hinguckt und Entscheidungen trifft. SPRECHERIN Für Matthias Durchfeld, Direktor des Institutes für die Geschichte des italienischen Widerstandes in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia hat sich Giacomo Notari damit für die richtige Seite der Geschichte entschieden, selbst wenn man ihn und seinesgleichen damals als Banditen und Rebellen abtut. O-Ton 04 Matthias Durchfeld So wurden sie von der deutschen Besatzungsmacht oder den italienischen Faschisten bezeichnet, banditi, wurde dann aber auch trotzig angenommen, ja dann sind wir das eben banditi e ribelli. Kokettiert auch mit der Gesetzlosigkeit, was eine sehr hoch anzusehende Eigenschaft ist, dass man dem Gewissen mehr Gewicht gibt als dem Gesetz, gerade in Jahren des Krieges. (ausblenden) MUSIK SPRECHER Seit Herbst 1922 wird die parlamentarische Monarchie Italien von der faschistischen Partei unter Benito Mussolini regiert und verwandelt sich schrittweise in ein totalitäres Regime. SPRECHERIN Die Pressefreiheit ist eingeschränkt, es gelten Rassengesetze, eine politische Opposition existiert nicht mehr. Die Antifaschisten sitzen in Haft oder leben in der Verbannung. SPRECHER 1936 schließen Mussolini und Hitler einen Freundschaftsvertrag, die „Achse Berlin-Rom“, 1940 tritt Italien an der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein. SPRECHERIN Der Krieg nimmt für das unzureichend vorbereitete und schlecht ausgerüstete Land einen katastrophalen Verlauf. Als sich noch die Lebensbedingungen der Bevölkerung verschlechtern, kommt es im Frühjahr 1943 zu Massenprotesten. SPRECHER Mitte 1943 landen die Alliierten auf Sizilien und bombardieren Rom. Daraufhin entzieht das oberste Gremium der Faschistischen Partei Benito Mussolini das Vertrauen. Noch am selben Tag lässt König Vittorio Emanuele III. ihn verhaften und übernimmt den Oberbefehl über die Streitkräfte. Marschall Pietro Badoglio wird zum neuen Regierungschef ernannt. SPRECHERIN Die Italiener jubeln und sofort formieren sich die antifaschistischen Parteien neu. SPRECHER Die Badoglio-Regierung verspricht Hitler, weiterhin an seiner Seite zu kämpfen. Im Geheimen verhandelt sie mit den Alliierten über einen Waffenstillstand, der am 8. September eintritt. Hitler schäumt und spricht von Verrat. MUSIK SPRECHERIN Dieser Vorwurf wird von der NS-Propaganda gebetsmühlenartig wiederholt und gilt bis heute als einer der Gründe, warum sich die Deutsche Wehrmacht für im späteren Verlauf für eine „Politik der verbrannten Erde“ gegen Widerstandskämpfer und die Zivilbevölkerung entscheiden. SPRECHER Da sie mit einem Rachefeldzug der Deutschen rechnen, flüchten König und Regierung in den von den Alliierten kontrollierten Süden. Das Land überlassen sie dem Chaos und der deutschen Wut. SPRECHERIN Noch am selben Tag gründen die antifaschistischen Parteien und Organisationen ein nationales Befreiungskomitee und rufen zum Widerstand auf. Denn noch ist das faschistische Regime nicht besiegt. SPRECHER Wie befürchtet, marschieren deutsche Truppen sofort in Italien ein und besetzen den noch nicht befreiten Teil des Landes bis Neapel. Ein Spezialkommando holt Mussolini aus dem Gefängnis und Hitler beruft ihn zum Regierungschef der neu geschaffenen Marionettenregierung Repubblica Sociale Italiana, auch Republik von Salò genannt, nach ihrem Sitz am Gardasee. SPRECHERIN Italien ist faktisch zweigeteilt. Der von den Alliierten befreite Süden, il Regno del Sud, erklärt Deutschland der Krieg. Nord- und Mittelitalien untersteht der deutschen Besatzung und ihren italienischen Vasallen. SPRECHER Vor diesem Hintergrund, so Matthias Durchfeld, beginnt eines der wichtigsten Kapitel der neueren italienischen Geschichte - die zwanzigmonatige Resistenza. O-Ton 05 Matthias Durchfeld Resistenza ist der antifaschistische Widerstand von 1943-45 gegen die deutsche Besatzung und den italienischen hauseigenen Faschismus. Es ist bewaffneter Widerstand und politischer Widerstand. Und der fällt nicht vom Himmel, sondern entwickelt sich aus dem politischen Widerstand, den es auch vorher gegeben hat. MUSIK SPRECHERIN In den folgenden Monaten schließen sich Hunderttausende Italiener, Männer und Frauen, dem antifaschistischen Widerstand an. Den Kern bilden Oppositionelle, die in dem Durcheinander-Sommer zwischen 25. Juli und 8. September aus der politischen Haft entlassen werden. Sie gründen in den Städten erste „Gruppen für patriotische Aktionen“, kurz GAP genannt. Noch ist es ein unbewaffneter Widerstand, mit dem Stift in der Hand, um politische Propaganda zu betreiben oder auf dem Fahrrad, um die Ortsgruppen oder die alliierten Streitkräfte mit Informationen zu versorgen, erläutert Matthias Durchfeld: O-Ton 06 Matthias Durchfeld Am Anfang allerdings, als die Partisanen noch sehr wenige waren, gab es einzelne Kleingruppen in den Städten, die Attentate auf faschistische Offiziere durchführten, um zu zeigen, a) sie sind angreifbar, und b) es gibt Leute die angreifen, es gibt Widerstand, es gibt eine Alternative MUSIK SPRECHER Im Herbst und Winter 1943/44 verläuft die Front auf der so genannten Gustavlinie, rund hundert Kilometer südlich von Rom. Dort stehen sich deutsche Truppen und alliierte Streitkräfte gegenüber. Um die Wehrmacht zu unterstützen, ruft die Republik von Salò junge Italiener zu den Waffen, mit wenig Erfolg. SPRECHERIN Der antifaschistische Widerstand hat hingegen großen Zulauf: Kriegsdienstverweigerer, die sich verstecken müssen, sowie italienische Soldaten, die bis zum 8. September an der Seite Deutschlands gekämpft haben. SPRECHER Auch die italienische Armee wird von dem Waffenstillstand überrascht. Als der König und die Badoglio-Regierung hinter die Linien der Alliierten fliehen, stehen sie zudem ohne Oberbefehlshaber da. Daraufhin legen Soldaten und Offiziere die Waffen nieder. Um nach Hause zu gelangen, müssen sie den deutschen Machtbereich durchqueren. Dort stellt man sie vor die Wahl: Eingliederung in die neugegründete faschistische Armee oder Entwaffnung und anschließende Deportation in deutsche Arbeitslager. MUSIK SPRECHERIN Nur 20 Prozent der Soldaten sind bündniswillig, mehr als eine halbe Million landen in deutschen Arbeitslagern, mindestens ebenso viele desertieren. Sie machen sich auf den Weg nachhause, und oft führt der Weg über den Apennin, der sich südlich von Bologna von der französischen Grenze bis zur Adria hinzieht. SPRECHERIN Der nicht enden wollende Zug aus Rückkehrern ist für Giacomo Notari, der in einem Dorf oberhalb von Reggio Emilia lebt, die erste Begegnung mit den Auswirkungen des Krieges. In Erinnerung bleibt ihm vor allem eine Gruppe Gebirgsjäger, die geschwächt und ausgehungert aus Russland zurückkommt. O-Ton 07 Giacomo Notari ZITATOR OV Diese Jungs stürmten den Sitz der faschistischen Partei im Dorf und schmissen alles aus dem Fenster. Für uns war es fast schon ein Schock auch das Porträt Mussolinis im Staub liegen zu sehen. Wir hatten schließlich alle eine faschistische Ausbildung erhalten. O-Ton 08 Matthias Durchfeld Wie Giacomo Notari gesagt hat: Die Alpini verwüsten das Büro, nachdem sie aus dem Krieg zurückkommen, nicht vorher. Das heißt, ihre konkrete Situation bringt sie auf den Gedanken, sich anders zu Verhalten. Und einige gehen zu den Partisanen. Und sie sind sehr wichtig aufgrund der Erfahrung, die sie mitbringen. SPRECHERIN Für Giacomo Notari ist die Episode ein Schlüsselerlebnis. Sie macht ihm Mut und er nimmt zu einer lokalen GAP-Widerstandsgruppe Kontakt auf. Dort erhält er den Auftrag, sich bei der Armee der Republik von Salò zu melden, um sie zu infiltrieren. Auch andere Zivilisten reagieren. Sie wollen verhindern, dass die Rückkehrer in die Hände der Deutschen und ihrer faschistischen Unterstützer fallen, und versorgen sie mit ziviler Kleidung, verstecken ihre Waffen und verbrennen die Uniformen. Dabei kann schon diese Hilfe Folgen haben, erklärt Giacomina Castagnetti, eine 18-Jährige, die sich ebenfalls einer GAP-Gruppe anschließt. O-Ton 09 Giacomina Castagnetti ZITATORIN OV Zu den Familien zu gehen und zu fragen, ob sie eine Hose oder ein Paar Schuhe übrighaben, konnte gefährlich werden. Viele waren nach wie vor wie vor Faschisten und unterstützten die Deutschen. Wir riskierten also, angezeigt zu werden und im Gefängnis zu landen oder gefoltert zu werden. MUSIK SPRECHER Im Mai 1944 gelingt es den alliierten Streitkräften, die Gustavlinie bei Rom zu durchbrechen und die Wehrmacht zieht sich langsam gen Norden zurück. SPRECHERIN Noch hat der Widerstandskampf da keine militärische Bedeutung. Vielmehr schützt man die Zivilbevölkerung vor den Schikanen der Besatzer und Faschisten oder stört die Versorgung der deutschen Truppen. SPRECHERIN Mit dem Rückzug der Wehrmacht verlegt sich der Widerstand jedoch von den Städten in die Berge und wird dort zunehmend als Guerillakrieg ausgetragen. SPRECHERIN Für ihre Ausbildung zu Guerillakämpfern sorgen die desertierten Soldaten, für ihre politische Indoktrination sogenannte politische Kommissare. O-Ton 11 Matthias Durchfeld Das waren oft ältere, die politische Erfahrung hatten, aus dem Exil, im Gefängnis. Für die zwanzigjährigen Partisanen, die von nichts eine Ahnung hatten, die aus einer ländlich geprägten Gegend kamen, waren das ganz wichtige Vaterfiguren, die wirklich versuchten einem das ABC der Politik beizubringen. SPRECHERIN Die politischen Kommissare sollen auch dafür sorgen, dass sich das Verhältnis zur Bevölkerung verbessert. Gerade zu Beginn des bewaffneten Befreiungskampfes sind die Bewohner der Bergregionen nicht davon begeistert, dass sie einen undisziplinierten Haufen junger Männer, die in ihrer Nähe einen Guerillakrieg führen, mit Lebensmitteln versorgen sollen. O-Ton 12 Matthias Durchfeld Wenn du selber wenig zu essen hast, wird es auch schwierig, andere Leute durchzufüttern. Es ist also nicht nur politisch zu sehen. SPRECHERIN In der Regel können die Partisanen jedoch während der gesamten 20 Monate auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen, besonders gegen Ende des Krieges, als Neutralität nicht mehr möglich ist. Und hier tun sich vor allem die Frauen hervor. Zwar trauen sich nur wenige – weil es sich einfach nicht gehört – sich den bewaffneten Partisanen anzuschließen. Trotzdem ist ihre Mithilfe unverzichtbar, gerade als Stafette, weiß Giacomina Gastagnetti. O-Ton 13 Giacomina Castagnetti ZITATORIN OV Wir haben Flugblätter verteilt und die Partisanen in den Bergen mit Informationen versorgt. Die Jungs mussten schließlich wissen, wo sich genau die deutschen Truppen befanden. Wir haben auch Waffen in unseren Körben transportiert, zum Beispiel Handgranaten zwischen den Kartoffeln versteckt. Wer erwischt wurde, landete geradewegs im Gefängnis und kam meist nie mehr nach Hause. MUSIK SPRECHERIN Allein im Jahr 1944 beteiligen sich bis zu einhundertfünfzigtausend Partisanen gleichzeitig an dem bewaffneten Befreiungskampf in den Apennin-Regionen Piemont, Ligurien, Emilia Romagna und Toskana. Es sind vorwiegend junge Männer, die sich in den Bergen verstecken, dort in Hütten und Höhlen übernachten und von der Bevölkerung versorgt werden. Von dort machen sie ihre Vorstöße ins Tal, schießen aus dem Hinterhalt auf vorbeifahrende deutschen Truppen, sprengen Brücken, kappen Telefon- und Stromleitungen. Waffen, Geld, Lebensmittel oder Benzin erhalten sie - nach anfänglichem Zögern - von den Alliierten. Manchmal kommen auch deren Offiziere, um sie zu schulen. SPRECHERIN Natürlich wissen die Allliierten, dass sie den Krieg gegen die Deutschen auch alleine gewonnen hätten, so Matthias Durchfeld. Trotzdem kommen sie irgendwann an den Partisanen nicht vorbei, obwohl sie anfangs als Banditen und Rebellen gelten. O-Ton 14 Matthias Durchfeld Die Partisanen werden aber für die Regierungen im Süden ein wichtiges Argument den Alliierten gegenüber, schon in Sichtweite auf die Nachkriegszeit: Das gute Italien, das wir hinterher auf die Waagschale bei den Friedensverhandlungen legen können. Insofern gibt es die Legitimation der Truppen und des Befreiungskomitees ganz offiziell. Sie waren in gewisser Weise die reguläre Armee SPRECHERIN Partisanen, eine reguläre Armee? Das sehen die Deutschen und ihre italienischen Vasallen anders. Für sie sind sie bloß Banditen, die einen hinterhältigen Bandenkrieg führen. Daher fühlt sich der deutsche Oberbefehlshaber Kesselring auch nicht verpflichtet, sich an die Genfer Konvention zu halten, die den Umgang mit Kriegsgegnern regelt. MUSIK SPRECHER Das Resultat ist verheerend: die deutschen Soldaten und ihre faschistischen Verbündeten wie die Spezialeinheit Decima Mas brandschatzen, vergewaltigen, morden ungestraft. Partisanen, die in deutsche Gefangenschaft geraten, werden gefoltert und getötet. Sie benutzen die Bevölkerung als Druckmittel: jeder Partisanenangriff wird mit Repressalien gegen umliegende Dörfer geahndet und selbst das Verschweigen von Informationen wird mit dem Tode bestraft. SPRECHERIN Weil die Partisanen trotzdem weitermachen, werden die Vergeltungsmaßnahmen im Sommer 1944 sogar noch verschärft. In dieser Zeit nehmen auch die deutschen Massaker an der Zivilbevölkerung zu. Als so genannte Sühnemaßnahmen werden rund 10.000 Frauen, Kinder und alte Männer auf bestialische Weise abgeschlachtet - sowohl von der SS als auch von der Wehrmacht - was lange geleugnet wird. Als Grund für diese Politik der verbrannten Erde gelten neben der Verbitterung über das Waffenstillstandsabkommen der Italiener mit den Alliierten, natürlich noch weitere Gründe, so Matthias Durchfeld. O-Ton 15 Matthias Durchfeld Erst einmal ist sicherlich eine totale Verrohrung und eine nicht Italienspezifische Nichtachtung des Lebens vorauszusetzen bei vielen Leuten, die sich an den Kriegsalltag und an Gewalt gewöhnt haben. Dazu kommt, wenn man über Massaker redet 1944, über Marzabotto, das schlimmste, da war eigentlich klar, die Deutschen verlieren die Krieg. Diese Verbrechen im letzten Jahr haben auch den zweiten Grund: die Situation, es ist sowieso alles ist egal, wir sind dabei zu verlieren. SPRECHERIN Nach einem Massaker in seiner Nachbarschaft, bei dem 32 Zivilisten lebendig verbrannt werden, wechselt Giacomo Notari zum bewaffneten Widerstand und legt sich den Codenamen „Partisan Willi“ zu. O-Ton 16 Giacomo Notari ZITATOR OV Es war ein traumatisches Ereignis. Sie hatten auch vorher getötet, Doch hier verhöhnten sie die Toten und vor allem töteten sie Kinder. Danach konnte man überall hören: "Damit muss Schluss sein." Und viele griffen zu den Waffen. MUSIK SPRECHER Mittlerweile verläuft die Front auf der Gotenlinie. Die 320 Kilometer lange deutsche Verteidigungslinie mit Minenfeldern, Schützengräben und Luftschutzbunkern zieht sich zwischen Bologna und Florenz von der toskanischen Küste quer durch den tosco-emilianischen Apennin bis zur Adria. SPRECHERIN Während die Alliierten vorwiegend aus der Luft angreifen, kämpfen die Partisanen am Boden weiterhin ihren Guerillakrieg: angreifen, zurückziehen, angreifen. Denn für größere Aktionen reicht ihre Kampfkraft nicht. Das merkt auch Giacomo Notari, alias Partisan Willi, als er, nur mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgerüstet, gemeinsam mit mehreren Einheiten die Division Göring angreift, die hingegen über Panzerfahrzeuge, Artillerie und Kleinflugzeuge verfügt. O -Ton 17 Giacomo Notari ZITATOR OV Das ist uns teuer zu stehen gekommen, es gab viele Tote, mehr als 1000 von uns wurden gefangen genommen und nach Deutschland deportiert. Anderthalb oder zwei Tage konnten wir dagegenhalten. Dann lösten wir unsere Verbände auf. Nur ganz langsam schlossen sich unsere Reihen wieder. SPRECHER Dann folgt der letzte Kriegswinter. MUSIK SPRECHERIN Für die Partisanen in ihren provisorischen Unterkünften werden die Zustände unhaltbar. Es schneit wie lange nicht mehr, sie leiden unter der Kälte und müssen hungern. Als dann die Alliierten vorübergehend ihre Truppen abziehen, um sie anderswo einzusetzen, geben viele auf und gehen nach Hause. Nur ein kleiner Teil, darunter Giacomo Notari, hält durch und setzt den Guerillakrieg fort. ATMO Akkordeon SPRECHERIN Im Frühjahr 1945 nehmen die Alliierten die Kampfhandlungen wieder auf und auch die bewaffnete Resistenza bekommt erneut Zulauf. Gemeinsam befreien sie Schlag auf Schlag eine Stadt, eine Provinz nach der anderen. Am 25. April fällt die Gotenlinie und kurz darauf kapituliert Deutschland. Während Partisan Willi noch bis zum 2.Mai in den Bergen bleibt, um versprengte faschistische Milizen zu bekämpfen, feiert Giacomina Castagnetti bereits die Befreiung. O-Ton 19 Giacomina Castagnetti ZITATORIN OV Das erste was ich getan habe, nach Hause laufen und die Fenster öffnen. Denn sie waren fünf Jahre lang mit lichtundurchlässigem Zuckerpapier verklebt gewesen. Dann habe ich mir eine Fahne unseres Befreiungskampfes besorgt und bin bis nach Reggio heruntergelaufen, um zu feiern. MUSIK SPRECHERIN Der zwanzigmonatige Befreiungskampf kostet rund 120.000 Partisanen und Zivilpersonen das Leben. Genaue Zahlen über Gefallene auf der gegnerischen Seite existieren nicht, auch weil dieses Kapitel der deutsch-italienischen Geschichte nie wissenschaftlich untersucht wurde. SPRECHER Im ganzen Land kommt es danach zu einer persönlichen, später dann auch zu einer politischen und gerichtlichen Abrechnung mit dem Faschismus. Letztere finden jedoch durch ein Amnestiegesetz im Juni 1946 ein vorzeitiges Ende. MUSIK SPRECHERIN Für die Männer und Frauen aus dem antifaschistischen Widerstand eine Enttäuschung. Sie trösten sich damit, dass die Monarchie abgewählt wird und ein neuer demokratischer Staat aus ihrem Befreiungskrieg hervorgeht. MUSIK Vor allem aber hat er mündige Bürger hervorgebracht, wie Giacomo Notari. Als Vertreter der kommunistischen Partei ist er später lange Zeit Bürgermeister seiner Heimatgemeinde. Zeit seines Lebens engagiert er sich zudem dafür, dass die Gründe, die Erfahrungen und Folgen der Resistenza nicht in Vergessenheit geraten. Den für ihn ist nichts schlimmer, als dass der Faschismus als eine Meinung unter vielen wieder salonfähig wird.…
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1 MUSSOLINIS ENDE – Die Republik von Salò 22:33
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22:33Im Sommer 1943 wird Mussolini gestürzt und festgesetzt, wenige Wochen später aber von deutschen Fallschirmjägern befreit. Kurz darauf gründet er südlich der Alpen die "Republik von Salò", in der er versucht, als Staatschef von Hitlers Gnaden einen noch radikaleren Faschismus durchzusetzen. Das Unternehmen endet im Desaster. Von: Rainer Volk (BR 2023) Credits Autor: Rainer Volk Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Jungwirth, Peter Weiß, Silke von Walkhoff Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Amedeo Osti Guerazzi, Roberto Vivarelli Linktipps: Deutschlandfunk (2025): Mussolini – Italiens Weg in den Faschismus Benito Mussolini war bereits fast drei Jahre lang Ministerpräsident, als er am 3. Januar 1925 endgültig den Weg Italiens in die Diktatur ebnete. Er übernahm öffentlich die Verantwortung für den Mord an einem politischen Gegner. JETZT ANHÖREN ZDF (2023): Mussolini – Der erste Faschist Er gilt als Erfinder des Faschismus: der Diktator Benito Mussolini. Über zwei Jahrzehnte lang steht er an der Spitze Italiens und stürzt am Ende sein Land in die Katastrophe. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: OT 1 Kriegserklärung Italien an Frankreich/GB am 10.6.1940 Rufe „Duce, Duce, Duce“ – L’ora delle decisione… MUSIK Erzähler: Die Stunde der Entscheidung ist da, ruft Benito Mussolini am 10. Juni 1940, als er Frankreich und Großbritannien den Krieg erklärt. Die Menschen auf dem Platz vor dem Palazzo Venezia in Rom jubeln. Entscheidend ist dieser Tag in der Tat. Mit ihm beginnt auch die Geschichte der Republik von Salò. – Denn der 2.Weltkrieg überfordert Mussolinis Diktatur: Zwei Feldzüge in Äthiopien und Libyen haben Italien viel Kraft gekostet. Es ist Hitlers Blitzfeldzug durch Frankreich, der Mussolini in den Krieg lockt – er spekuliert auf einen Teil der Beute. 1943 hat Italien diese Hoffnungen begraben müssen. An allen Fronten ist das Bündnis mit dem NS-Regime, die so genannte „Achse“, in der Defensive. Amedeo Osti Guerazzi, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Padua sagt zur Kriegslage im Sommer 1943: OT 2: OV Amedeo Osti Guerazzi Osti-Guerazzi – Sommer 43 „The reports of the political police … in the hands of Hitler.” Übersetzer: “Die politische Polizei berichtete damals, dass die Menschen sauer waren über das Regime. Man wusste, der Krieg war verloren. Es war völlig sinnlos, gegen die Amerikaner zu kämpfen. Die Bombenangriffe der amerikanischen und britischen Luftwaffe hatten viele Städte bereits stark zerstört. Im Süden wie im Norden. Zudem hungerten die Italiener – Menschen starben, weil es nicht genug zu essen gab. Man war sich einig: Mussolini ist nur eine Marionette Hitlers.“ OT 3: Landung Sizilien „Hello the OWI in New York – this is Allied Force Headquarters in North Africa. … Erzähler: Am 10.Juli 1943 merken alle, es wird ernst: Briten und Amerikaner beginnen die Invasion Siziliens. Die Landung führt dazu, dass Mussolinis Gefolgsleute das Vertrauen in ihn verlieren. Sie beantragen für den 24.Juli eine Sitzung des „Faschistischen Großrats“. Das Gremium hat seit 1939 nicht mehr getagt, ist eigentlich unnütz, meint Amedeo Osti Guerazzi: OT 4: OV Amedeo Osti Guerazzi (Osti Guerazzi – Großrat) „But it was the only way… to summon these hierarchs in the Gran Consiglio.” Übersetzer: “Aber es war der einzige Weg wie die Bonzen der Faschistischen Partei, Mussolini zwingen konnten etwas zu tun. Die intelligentesten unter ihnen hatten kapiert, dass der Krieg verloren war. Sie hatten Mussolini bekniet, den Faschismus zu retten – und damit sich selbst. Jetzt zwangen sie ihn zu handeln. Seltsamerweise ist er einverstanden – das Motiv ist bis heute unklar. Wir wissen nicht, weshalb er die Parteigrößen zum Faschistischen Großrat einberuft.“ MUSIK Erzähler: Man tagt zehn Stunden. Als ein Antrag gestellt wird, Mussolini das Kommando über die Streitkräfte zu entziehen und es König Viktor Emmanuel III. zu übertragen, schweigt der Duce. Prompt wird der Vorschlag angenommen. Konsterniert bittet Mussolini tags darauf um eine Audienz beim König. Dieser erklärt ihm dabei, er sei als Regierungschef entlassen und festgenommen. OT 5: („Nachrichten des italienischen Rundfunks“ MB: W0030442Z00) - „Attenzione! Attenzione!... Pietro Badoglio.“ Erzähler: Die Nachricht von Mussolinis Sturz ist eine Sensation. In Rom feiern die Menschen auf der Straße. Offiziell heißt es im Radio: Seine Majestät der König und Kaiser habe der Bitte Mussolinis entsprochen, ihn von den Ämtern als Ministerpräsident, Regierungschef und Staatssekretär zu entbinden. Diese Ämter seien Feldmarschall Pietro Badoglio übertragen worden. Erzähler: Ein 71jähriger General als Nachfolger eines Mannes, der für Millionen ein Idol war? Das bestürzt Millionen Italiener. Der Historiker Roberto Vivarelli erinnert sich, sein Vater habe als überzeugter Faschist von „Verrat“ gesprochen. Vivarelli lehrt nach dem Krieg Geschichte an italienischen Universitäten und forscht auch zu den Ursprüngen des Faschismus. Anfang dieses Jahrhunderts sorgt sein freimütiges Bekenntnis in Italien für Furore, der Staatsstreich gegen Mussolini 1943 sei für ihn als damals 13jährigen ein Schlag gewesen. Hier ein Ausschnitt eines Gesprächs mit Roberto Vivarelli aus dem Jahr 2004. OT 6: OV Roberto Vivarelli Vivarelli – Staatsstreich „Era colpito …all’interno di regime fascista stesso.“ Übersetzer II: „Es war Frustration und auch Wut, weil es nicht möglich schien, dass die Dinge so enden würden. Wie Mussolini gestürzt wurde, schien für uns wie ein Verrat. Verrat seitens der Italiener, aber auch seitens einiger Faschisten, denn es war ja der Großrat, der den Sturz herbeiführte - gewissermaßen als Putsch innerhalb des faschistischen Regimes.“ Erzähler: Die Hoffnungen des Monarchen in General Badoglio werden bald enttäuscht. Viktor Emmanuel hat Angst vor dem Kommunismus und einem Ende seines Königreichs. Gleichzeitig soll Badoglio die Deutschen daran hindern, Italien zu besetzen. Denn in Berlin ahnt man, dass Italien den Krieg gegen Briten und Amerikaner beenden will. So viele Probleme kann ein Polit-Neuling wie Badoglio nicht lösen, meint der Historiker Amedeo Osti Guerazzi OT 7: OV Amedeo Osti Guerazzi „It was a failure, of course… where he was in the hands of the Anglo-Americans.” Übersetzer: “Das ging schief - klar. Das Einzige, was er schaffte, war auf Demonstranten gegen den Faschismus zu schießen. Er war unfähig, einen Waffenstillstand mit den Anglo-Amerikanern zu erreichen, der Hand und Fuß hatte. Er konnte die Rache der Deutschen nicht verhindern. Sie besetzten am 9./10.September das ganze Land. Daraufhin floh er mit dem König flugs in den äußersten Süden, nach Brindisi, wo er in den Händen der Alliierten war.“ MUSIK Erzähler: Die Schilderung zeigt, wie sich die Ereignisse überstürzen. Die Waffenruhe mit den Alliierten, die am 8. September 1943 publik wird, ist für die Deutschen Vorwand, ganz Nord- und Mittelitalien zu besetzen, Rom zu belagern und 800-tausend italienische Soldaten gefangen zu nehmen. Für Roberto Vivarelli, der in Siena lebt, ist die Einigung mit Amerikanern und Briten der Schlüsselmoment. Denn er zwingt alle sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen: OT 8: OV Roberto Vivarelli Vivarelli – 8. September „Il momento decisivo … contre gli tedeschi.” Übersetzer II: „Der entscheidende Moment ist der 8. September, der Tag des Waffenstillstands. Denn ab da ging es bergab, sogar in einer kleinen Stadt wie Siena. Die Einwohnerschaft war gespalten. Es gab diejenigen, die für die eine Seite waren und diejenigen, die gar keine Haltung einnahmen. Die auf der anderen Seite zeigten sofort eine, sagen wir mal, positive Haltung zur Regierung des Südens. Also gegen die Deutschen. Entscheidend war also, für die Deutschen oder gegen die Deutschen zu sein.“ MUSIK Erzähler: Am 12. September befreien deutsche Fallschirmjäger Mussolini aus der Gefangenschaft in einem Hotel am Gran Sasso-Massiv. Für die Nazis ein Coup – auch der Empfang durch Hitler in dessen Hauptquartier in Ostpreußen. Dort erklärt dieser seinem einstigen Vorbild, SS und Wehrmacht seien nun die Herren in Italien. – Ein Eklat, den man durch eine Radiorede Mussolinis an seine Landsleute kaschieren will. OT 9: Radio-Rede Mussolinis nach der Befreiung „Camiceneri, italieni é italiane… Erzähler: Der Duce spricht an diesem 18. September aus München - sehr verhalten. Er verkündet, Italien werde den Kampf an der Seite Deutschlands wieder aufnehmen. - De facto ist die „Repubblica Sociale Italiana“, die er am 23. September 1943 ausruft, ein Staat von Hitlers Gnaden. Die erste Kabinettssitzung findet in der deutschen Botschaft in Rom statt. Da wissen aber alle schon, dass die Ministerien und Führungsriege des neuen Regimes an den Gardasee umziehen. Amedeo Osti Guerazzi: OT 10: OV Amedeo Osti Guerazzi Osti – Saló “First of all…it was secret. Übersetzer: Erstens lag Rom zu nahe an der Front. Zweitens verachtete Mussolini Rom, weil er hier verraten worden war am 25. Juli 43. Mailand war zu gefährlich - die US-Luftwaffe bombardierte die Stadt täglich. So kam man auf diesen Ort am Garda-See, in der Nähe wichtiger Nazi-Kommandostellen, wo ihn der SS-General Wolff überwachen konnte. Die Bezeichnung „Republik von Salò“ rührt daher, dass dort das Propaganda-Büro saß. So hieß es offiziell immer: „Salò sagt dieses, Salò berichtet jenes.“ Die Leute meinten, Mussolini sei dort. Aber wo er wirklich war, war geheim.“ OT 11: Musik Giovinezza - instrumental Erzähler: Zur Propaganda gehört auch, dass im Radio wieder die Faschisten-Hymne „Giovinezza“ ertönt. Auch das ein Zeichen, es ist alles wieder wie Juli 1943. Allerdings zieht Mussolini auch Lehren aus seinem Debakel. Das zeigt der offizielle Staatstitel „Repubblica Sociale Italiana“ – Italienische Sozialrepublik. Er soll an die populistischen Anfänge der faschistischen Partei im Jahr 1919 anknüpfen, sagt Amedeo Osti Guerazzi: OT 12: OV Amedeo Osti Guerazzi Osti – RSI-Name „The first name, not given by Mussolini… against the monarchy, against the king, who betrayed him in July 1943.” Übersetzer: Zunächst dachten die Nazi-Bonzen – nicht Mussolini – als Bezeichnung an „Nationale Faschistische Regierung“. Mussolini wusste aber: der Begriff „Faschismus” kommt im September 1943 nicht mehr gut an bei den Leuten. Er argumentierte: Wir müssen zurück zum wahren Faschismus – dem sozialen Faschismus, populistischen Faschismus. So entstand “Italienische Sozialrepublik“. Klar, das ging auch gegen die Monarchie - den König, der ihn im Juli 43 verraten hat.“ MUSIK Erzähler: Im Alltag führt das zu einer Radikalisierung: einer verschärften Zensur, Polizei und Gestapo verstärken erheblich die Verfolgung der Juden – tausende landen nun in deutschen Vernichtungslagern in Osteuropa. Wer politisch missliebig ist, landet im Gefängnis. Drakonische Maßnahmen, die Italien spalten. Eine Minderheit der Bevölkerung bleibt Mussolini treu; eine Mehrheit wartet ab oder leistet Widerstand. Schätzungen zufolge schließen sich 150-tausend Männer und Frauen Partisanen- und Widerstandsgruppen an - „Partigiani“ oder „Resistenza“ genannt. MUSIK Erzähler: Berühmt – und in unzähligen Versionen nachgesungen – wird ab Herbst 1943 die Partisanen-Hymne „Bella ciao“, ursprünglich ein Volkslied. Der Text handelt vom Abschied eines Partisanen von seiner Geliebten, ehe er sich in den Bergen versteckt. Der „Eindringling“, der besungen wird, sind die deutschen Besatzer Italiens. Erzähler: Die Fronten werden unübersichtlich, was das Misstrauen wachsen lässt und tausende italienische Zivilisten das Leben kostet. Berüchtigt sind die Massaker deutscher Soldaten in Orten wie Sant‘ Anna di Stazemma unweit von Pisa und Marzabotto bei Bologna. Auch in Rom schlagen die deutschen Besatzer erbarmungslos zu: OT 14: Atmo „Fosse Ardeatine“ Erzähler: Eine Landstraße im Süden der italienischen Hauptstadt windet sich an den Ardeatinischen Höhlen vorbei. Der Weg in die Gedenkstätte dort führt durch ein schmiedeeisernes Tor in einen weiten Innenhof, von dem aus man Gänge sieht. Am 24. März 1944 erschießt die SS hier per Genickschuss 335 italienische Geiseln, darunter 75 Juden – Vergeltung für einen Bombenanschlag der Widerstandsbewegung tags zuvor in Rom. – In den Höhlengängen sind zur Erinnerung steinerne Tafeln angebracht; in einem Mausoleum stehen die Särge der Hingerichteten – eine düstere Szenerie. MUSIK Erzähler: Militärstrategen nennen Kriege zwischen Staats-Armeen und kleinen Guerrilla-Gruppen „asymmetrisch“. Sie sind zäh, verlustreich, kaum zu gewinnen. Deshalb akzeptieren die Deutschen widerwillig Truppen der Republik von Salò an ihrer Seite, vor allem für den „Partisanen-Kampf“. Hier zeigt sich deren militärischer Wert, sagt der Experte Amedeo Osti Guerazzi: OT 15: OV Amedeo Osti Guerazzi Osti – RSI-Truppen „They were quite effective fighting against the partisans… Alessandro Pavolini was wounded – on the back, by the way.” Übersetzer: „Sie waren nützlich– einige von ihnen zumindest waren ganz gut. Die so genannten “Schwarzen Brigaden”, die Miliz der faschistischen Partei, waren dagegen ein Desaster: Wirkungslos, disziplinlos, ohne Material und Waffen Erzähler: Trotz der mangelhaften Ausrüstung ihrer Gegner tun sich Amerikaner und Briten schwer auf dem italienischen Kriegsschauplatz. Erst Anfang Juni 1944 erreichen sie Rom. Die Stadt ist schwer mitgenommen, schreibt die Schriftstellerin Elsa Morante, eine Römerin, später in ihrem Roman „La storia“: MUSIK Zitatorin: „In den letzten Monaten der deutschen Besatzung nahm Rom das Aussehen gewisser indischer Metropolen an, wo nur die Aasgeier ihr Futter bekommen.“ OT 17: Roosevelt – Rom ist gefallen „Ladies and gentleman – the President of the United States. - My friends, yesterday… one up – two to go.” Erzähler: Anlässlich der Befreiung spricht in den USA Präsident Roosevelt im Radio. Die Deutschen haben Rom zur „offenen Stadt“ erklärt – sie wird nicht verteidigt. Roosevelt sagt: Dies ist die erste befreite Hauptstadt der Hitler-Allianz. Eine ist geschafft – zwei stehen noch aus. Erzähler: Die Symbolik der Befreiung Roms kann kaum überschätzt werden – hinter der reinen Machtfrage, wem die Hauptstadt gehört, verbirgt sich ein ideologischer Kontext. Deshalb habe der Verlust Roms dazu geführt, dass sich die weltanschauliche Perspektive der Faschisten von Salò weiter verschärft, meint der Historiker Amedeo Osti Guerazzi: OT 18: OV Amedeo Osti Guerazzi Guerazzi – Bedeutung Rom “Because since summer 1944 the fascists didn’t consider them (as) Italians anymore. … And the Italians were part of this plot against this Europe.” Übersetzer: “Ab Sommer 1944 betrachteten sich die Faschisten nicht mehr als Italiener, sondern als Verteidiger der Festung Europa, der europäischen Zivilisation. Sie wurden Nazi-Faschisten, versuchten, wie die Deutschen zu sein, so hart, so erbarmungslos, so verschlagen. Ihr Kampf als Faschisten richtete sich gegen Italiens Bevölkerung. Daher die blutigen Aktionen gegen Zivilisten. Daher sind die Faschisten dieser Zeit im kollektiven Gedächtnis Italiens so verhasst.“ Erzähler: Das Überleben von Mussolinis Marionetten-Regime in Oberitalien wird dadurch erleichtert, dass Briten und Amerikaner im Herbst 1944 das Interesse an diesem Krieg verlieren. Sie ziehen ihre kampfstärksten Truppen ab nach Frankreich. So können Wehrmacht und Salò-Soldaten die „Goten-Stellung“, eine Verteidigungslinie von Carrara in Ligurien bis Pesaro an der Adria lange halten. Trotzdem verlässt Mussolini die Region am Gardasee kaum noch. Roberto Vivarelli, damals inzwischen 15, berichtet noch Jahrzehnte später von der Not bei seinen Einsätzen gegen Partisanen in Piemont und gegen Briten und Amerikaner bei Bologna. OT 20: OV Roberto Vivarelli Vivarelli – Verpflegung „Mentre in vece … mangiaba molto male.“ Übersetzer II: „Verpflegung gab es nicht. Wenn, dann einmal in der Woche riesige Laibe Schwarzbrot. Ich erinnere mich an Stempel mit einem Datum darauf – sie waren Monate alt. Und dann hatten wir eine Art Salami und einige Bonbons, die angeblich Vitamine enthielten. In Piemont war die Versorgung ein Problem. Tatsächlich haben wir sogar versucht, Mehl von den Bauern zu bekommen und ab und zu auch ein paar Hühner zu stehlen, um sie an Ort und Stelle zu kochen, denn sonst war die Verpflegung wirklich übel.“ MUSIK Erzähler: Als Briten und Amerikaner Anfang April 1945 ihre Schlussoffensive starten, geht es mit Mussolinis Pseudo-Staat rasch zu Ende. Am 25.April stehen die Alliierten vor Mailand und die Partisanen rufen einen allgemeinen Aufstand aus. Mussolini sucht mit seiner Geliebten Claretta Petacci Schutz bei einem Trupp deutscher Soldaten, der nordwärts zieht, aber am Comer See von Partisanen gestoppt wird. Das besiegelt sein Schicksal. Stolz berichten einige der Partisanen später, wie sie das Paar am 28. April 1945 kurzerhand erschießen. Anschließend bringen sie die Leichen nach Mailand, wo sie geschändet kopfüber an einer Tankstelle aufgehängt werden. Auch mit anderen Bonzen des Regimes wie Parteichef Pavolini macht man kurzen Prozess. Es beginnt eine Welle von Säuberungen. Schätzungen zufolge werden allein 1945 zwischen 5- und 8000 Gefolgsleute der Republik von Salò gelyncht. 10-tausende verlieren ihre Arbeitsplätze. Bis 1948 eine Amnestie kommt, sind viele politisch aktive Mussolini-Anhänger zu den Christdemokraten gewechselt. Dort ist es sicherer als im neu gegründeten „Movimento Sociale Italiana“, der an den Faschismus anknüpfen will. In derlei ultrarechten Gruppierungen der italienischen Nachkriegszeit sieht der Historiker Amedeo Osti Guerazzi das bleibende Erbe der Republik von Salò – und bezieht die „Fratelli d’Italia“ der derzeitigen Regierungschefin Georgia Meloni mit ein. OT 22: OV Amedeo Osti Guerazzi Guerazzi – MSI „Movimento Sociale italiana … Italian Social Republic.” Übersetzer: “Italienische Sozialbewegung, Italienische Sozialrepublik – das soll Erinnerungen wecken. Erster Präsident des Movimento war Rodolfo Graziani, Verteidigungsminister und Generalstabschef von 1943 bis ’45. Bis in die 1970er Jahre war der ideologische Spielraum des Movimento gering. Dann machte Silvo Berlusconi den rechten Flügel akzeptabel. Und Georgia Meloni ist die Tochter einer langen, langen Geschichte. Auch wenn ich sie nicht für eine Faschistin halte, liegen die Wurzeln ihrer Partei in der Italienischen Sozialrepublik.“ MUSIK Erzähler: Der Marionettenstaat Hitlers wirft in Italien also Schatten bis heute. Benito Mussolinis Leiche wird 1945 übrigens zunächst anonym verscharrt, dann ausgegraben und in einen Sarkophag gelegt. Predappio, sein Geburtsort, wo der Sarkophag ausgestellt ist, gilt als Wallfahrtsstätte für Neofaschisten. Nicht wenige kommen in schwarzen Hemden.…
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1 WIE WAR DAS DAMALS? - Als wir schon eimal Angst vor dem Atomkrieg hatten 31:54
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31:54Die Angst vor einem Atomkrieg treibt die Menschen in den 80er Jahren um und auf die Straße. Als Reaktion darauf formiert sich sowohl in der BRD als auch in der DDR eine breite Friedensbewegung, die unabhängig von etablierten politischen Parteien agiert - ein Phänomen, das sich auch in anderen westlichen Ländern beobachten lässt. Die Aktivisten kritisieren dabei besonders die ihrer Ansicht nach völlig überzogene Aufrüstungsspirale zwischen den Supermächten. Da Deutschland durch seine geografische Lage im Falle eines Atomkonflikts zwischen den Großmächten als erstes betroffen wäre, finden die Anliegen der Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten besonders großen Anklang in der Bevölkerung. Credits Autoren: Christian Schaaf & Michael Zametzer Redaktion: Eva Kötting & Heike Simon Im Interview: Dr. Claudia Kemper Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Friedensbewegung – Mit Menschenketten gegen Aufrüstung Im Oktober 1983 demonstrierten in der Bundesrepublik mehr als eine Million Menschen gegen Aufrüstung – so viele wie nie zuvor. Sie wollten die Stationierung von Pershing-Raketen verhindern. Der Bundestag aber entschied anders. JETZT ANHÖREN ARD (2024): NATO-Doppelbeschluss in Brüssel Ende der 1970er-Jahre kommt es zu neuen Spannungen im Kalten Krieg zwischen den Ländern des Warschauer Paktes und den NATO-Staaten. Der Westen fühlt sich durch die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen in Osteuropa bedroht. Am 12. Dezember einigen sich die Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Staaten in Brüssel auf den NATO-Doppelbeschluss - eine folgenreiche politische Entscheidung, die bei vielen Menschen die Angst vor einem neuen atomaren Wettrüsten schürt und einer der Treiber wird für die Friedensbewegung der 1980er-Jahre. JETZT ANHÖREN SWR (2023): Wie russische Einflussnehmer die deutsche Friedensbewegung unterwanderten Am 22. Oktober 1983 demonstrierten Hunderttausende Deutsche für Frieden und gegen den NATO-Doppelbeschluss, also die Stationierung von Massenvernichtungswaffen. Was kaum einer ahnte: Die Geheimdienste der DDR und Sowjetunion beeinflussten die Friedensbewegung. Vor allem der "Dienst A" des KGB setzte auf "Einflussgespräche, verdeckte Dokumentenaktionen, mündliche Desinformation und den vermehrten Einsatz von unbewussten Multiplikatoren". JETZT ANHÖREN SWR (2024): Wie zeitgemäß ist Pazifismus? Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gilt Pazifismus als unzeitgemäß. Was dabei oft übersehen wird: Den einen Begriff des "Pazifismus" gibt es nicht. Von Rolf Cantzen (SWR 2023) JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN…
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1 EURASIEN IM MITTELALTER - Mythos Marco Polo 22:47
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22:47Sagenhafte Reichtümer, weise Herrscher, seltsame Bräuche. Marco Polos Bericht von seiner Asienreise macht ihn bis heute zum berühmten Abenteurer. Doch lässt sich der historische Marco Polo von seinem Mythos trennen? Von Niklas Nau (BR 2018) Credits Autor: Niklas Nau Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Stefan Wilkening, Beate Himmelstoß, Christian Schuler Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Marina Münkler Linktipps: MDR (2020): Auf Marco Polos Spuren – Biwak nonstop Spätestens seit den Reiseberichten Marco Polos strahlen die Länder der Seidenstraße eine ungeheure Faszination aus. Daran hat sich bis heute nichts geändert, wie ein Besuch in Kirgistan und Usbekistan zeigt. JETZT ANSEHEN WDR (2024): „Die Wunder der Welt“ – Der venezianische Reisende Marco Polo Am 8.1.1324 ist Marco Polo gestorben, das steht fest. Aber was ist wahr von all den unglaublichen Geschichten und Abenteuern, die er auf der Reise seines Lebens erlebt haben will? Der venezianische Asienreisende Marco Polo wird durch die Berichte über seine Reise ins Kaiserreich China des 13. Jahrhunderts bekannt. Obwohl einzelne Historiker Zweifel an der China-Reise äußern, wird diese von den meisten Historikern als erwiesen angesehen. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHER Es ist der 11. April 1241. Als die Sonne untergeht, ist vom dem einst so stolzen ungarischen Heer, das sein Lager südwestlich des Flusses Sajó aufgeschlagen hat, fast nichts mehr übrig. Eine mongolische Streitmacht hatte den Fluss überschritten und das ungarische Camp dem Erdboden gleichgemacht. SPRECHERIN Nur zwei Tage zuvor hatte ein anderes mongolisches Heer bei Liegnitz ein schlesisch-polnisches Heer vernichtend geschlagen. Nichts scheint den mongolischen Eroberungszug Europas aufhalten zu können. SPRECHER Doch so schnell die furchterregenden Reiter gekommen waren, so schnell verschwinden sie damals auch wieder. Der mongolische Heerführer will bei der Wahl des neuen Großkhans weit entfernt in der asiatischen Steppe mitreden und zieht sich zurück – er hinterlässt das Abendland im Schockzustand. MUSIK SPRECHERIN Wer waren diese Krieger, denen die schwerfälligen christlichen Ritter so wenig entgegenzusetzen hatten? Man nannte sie damals „Tartaren“, das Volk aus dem Tartaros – der Hölle. Religiöse Hysterie machte sich breit, erklärt die Literaturwissenschafts-Professorin Marina Münkler von der TU Dresden: Prof. Marina Münkler 1 „Man hat sich gefragt, ob das die Vorboten des Weltendes sind, ob das apokalyptische Völker sind, die nun die Welt verheeren werden. Und deswegen hat man die ersten Gesandtschaften in den Osten gesandt.“ SPRECHER Doch es sind nicht diese ersten Gesandten zu den Mongolen, mit klingenden Namen wie Johannes de Plano Carpini, Andreas von Longjumenau oder Wilhelm von Rubruk, an die wir uns heute noch erinnern. Nein, es ist der Name eines anderen Mannes, der erst einige Jahre später überhaupt geboren werden sollte, der die Jahrhunderte überdauern wird. MUSIK SPRECHERIN Marco Polo SPRECHER Der Name eines Abenteurers, ja des Abenteurers schlechthin. Warum wurde gerade aus ihm, dem Sohn eines venezianischen Kaufmanns, ein weltweit bekannter Mythos? Venedig, im Jahr 1254, dreizehn Jahre nach dem mongolischen Einfall in Europa: Es ist das Geburtsjahr Marco Polos. Wo genau er das Licht der Welt erblickt, weiß man nicht. Doch es ist wahrscheinlich, dass er seine Jugend irgendwo hier, in den Gassen und auf den Kanälen Venedigs verbringt. SPRECHERIN Schon damals war die „schwimmende Stadt“ eine blühende Handelsmetropole – mit gehöriger militärischer Schlagkraft. Ihre Macht reichte bis weit in den Osten, in Städte wie Konstantinopel oder Soldaia auf der Krim – wichtige Tore nach Asien, ins Reich der Khans. MUSIK SPRECHER Dorthin blickte Europa, nachdem die ersten Gesandten zurückkehrt waren, mit gemischten Gefühlen. Die religiöse Hysterie war zwar abgeebbt, aber die Furcht vor den Tartaren, die damals das bis heute größte zusammenhängende Landimperium der Welt errichteten, blieb. Doch gleichzeitig keimte die Hoffnung, in den Mongolen Verbündete im Kampf gegen die muslimischen Heere im Heiligen Land zu finden. Und gerade hier in Venedig muss damals noch ein anderes Versprechen in der Luft gehangen haben - von den sagenhaften Reichtümern des Ostens. MUSIK SPRECHERIN Wenn der junge Marco Polo seine Gedanken nach Osten schweifen ließ, sehnte er sich vielleicht nach etwas ganz anderem: Denn er wuchs als Halbwaise bei Verwandten auf. Seine Mutter war gestorben, und sein Vater Niccolò Polo war schon vor Marco‘s Geburt zusammen mit seinem Bruder Maffeo den Verheißungen des Ostens gefolgt und als Händler schließlich sogar bis an den Hof Kublai Khans gelangt. So behauptet es jedenfalls der Bericht, den Marco Polo viele Jahre später über sein eigenes großes Abenteuer verfassen sollte. Laut diesem Bericht empfing der Großkhan Niccolò und Maffeo Polo freundlich, mehr noch - er machte sie kurzerhand zu seinen Gesandten: MUSIK ZITATOR „Hierauf befahl er, dass in seinem Namen an den Papst zu Rom Briefe in tatarischer Sprache abgefasst und ihnen in ihre Hände übergeben werden sollten. Auch ließ er ihnen eine goldene Tafel geben, auf welche das kaiserliche Zeichen eingegraben war, nach dem Brauch, den seine Majestät eingeführt hatte: der, dem diese Tafel verliehen, wird mit samt seinem Gefolge von den Gouverneuren aller Plätze in den kaiserlichen Ländern von Station zu Station sicher geleitet.“ SPRECHER Marco Polo soll 15 Jahre alt gewesen sein, als sein Vater zurückkehrte. Wie lief die erste Begegnung ab? In Polos Bericht steht darüber kein Wort. Nur, dass Niccolò und Maffeo Polo sich zwei Jahre später abermals auf den Weg zum Großkhan machten. Mit Geschenken, einem Antwortbrief des Papstes – und dem jungen Marco. Dieser sollte Venedig lange Jahre nicht wiedersehen. MUSIK Prof. Marina Münkler 2 „Das war eine weite und auch nicht ungefährliche Reise, denn natürlich konnte auf dem Weg alles Mögliche passieren. Andererseits hatten die Mongolen zu diesem Zeitpunkt schon ein sehr gut funktionierendes Postsystem aufgebaut, das heißt, es gab Stationen an denen man die Pferde wechseln konnte. Wenn man denn eine solche mongolische Gesandtentafel hatte, dann wurde man tatsächlich geleitet.“ SPRECHERIN Man könnte nun vermuten, die vielen packenden Abenteuer, die der junge Mann trotz goldener Tafel auf der Reise durch fremde Länder bestehen musste, seien der Grundstein seines Mythos. Doch paradoxerweise sind vom großen Abenteurer so gut wie keine Abenteuer überliefert. MUSIK SPRECHERIN Der Prolog von Polos Bericht fasst die Reise in nur wenigen Zeilen zusammen: Sie habe dreieinhalb Jahre gedauert und die Polos an manch gefährliche Orte geführt. Auch über seine Zeit im Reich Kublai Khans, wo Polo 17 Jahre zugebracht haben will, und die vier Jahre dauernde Rückreise verliert der Prolog nur wenige Worte. SPRECHER Im Hauptteil seiner Erzählung taucht Marco Polo selbst dann nur noch sehr selten auf. Etwa, wenn bei der Beschreibung der heilenden, reinen Bergluft in der Provinz Balaschan kurz angemerkt ist, dass Marco Polo diese Heilung am eigenen Leib beobachten konnte, weil er ein Jahr lang „krank darniederlag“. MUSIK SPRECHERIN An anderer Stelle berichtet Polo von einem Räuberstamm, den Karaunas: ZITATOR „In Indien erlangten sie die Kenntnis magischer und teuflischer Künste, vermittels derer sie eine Finsternis hervorbringen können, die das Licht des Tages so sehr verdunkelt, dass die Leute einander unsichtbar werden […] Marco Polo wurde selbst in eine solche zauberkünstliche Finsternis gehüllt, entkam aber daraus in das Schloß Konsalmi. Einige seiner Gefährten jedoch wurden gefangen und verkauft und andere erlagen den Schwertern der Feinde.“ SPRECHER Doch von solch spärlichen Ausnahmen abgesehen: Der Bericht ist kein Abenteuerroman, sondern eine enzyklopädische Abhandlung des Ostens: Hier gibt es Gewürze und Gold, hier Rhabarber, dort prächtige Pferde und Falken. Doch Polo beschreibt nicht nur Waren, sondern auch Land und Leute – natürlich auch die in Europa als grausam und hinterlistig gefürchteten Mongolen. Prof. Marina Münkler 3 „Aber Marco Polo beschreibt die Mongolen ganz anders. Marco Polo beschreibt den Mongolischen Aufstieg seit 1206 unter Dschingis Khan, er beschreibt ihn aber unter dem Vorzeichen einer guten Herrschaft, die die Mongolen über den Osten ausgeübt hätten. Er beschreibt die weise Herrschaft Kublai Khans, das ist der Mongolenherrscher, mit dem er es dann zu tun hat, und hat eine ganz neue Perspektive, und die ist sehr stark von Faszination und nicht von Furcht geprägt.“ SPRECHERIN Der berüchtigte Dschingis Khan, dessen Feldzüge wohl Millionen Menschen das Leben kosteten – bei Polo wird er zum überall bejubelten Befreier. Vor allem aber schwärmt der Venezianer von Dschingis Khans Enkel – Kublai Khan. MUSIK SPRECHER Dieser Kublai Khan sei nicht nur mächtiger als alle anderen Fürsten der Welt zusammen und sammle in seinen Palästen unermessliche Reichtümer. Sondern eben auch ein tapferer, tugendhafter Krieger, gerecht und gütig: ZITATOR „Der Großkhan sendet jedes Jahr Abgeordnete aus, um zu sehen, ob irgend welche von seinen Untertanen in ihren Kornernten von ungünstigem Wetter, von Sturm oder heftigem Regen, oder von Heuschrecken, Würmern oder irgend anderen Plagen gelitten haben, und in solchen Fällen steht er nicht allein von Eintreibung der gewöhnlichen Schatzung ab, sondern versorgt sie von seinen Kornböden. SPRECHERIN Wie kommt Marco Polo zu einer so positiven Einschätzung? Prof. Marina Münkler 5 „Man könnte sagen, Marco Polo ist so etwas wie ein kultureller Überläufer. Er ist ja wenn seine zeitlichen Angaben korrekt sind, fast 25 Jahre im Reich des Großkhans gewesen, wenn man die Hin und Rückreise mitnimmt jedenfalls, und da ist es relativ plausibel, dass er in dieser Zeit einfach sehr viel gesehen und erfahren hat, was ihm den Eindruck vermittelt hat, die Mongolen seien den Europäern in vielen Belangen überlegen.“ SPRECHER Die riesigen Städte Chinas etwa, über das Kublai damals herrschte, oder das ausgeklügelte Post- und Kuriersystem müssen Eindruck auf ihn gemacht haben. Besonders hat es ihm außerdem das Papiergeld, das im Reich des Großkhans damals verwendet wird, angetan. SPRECHERIN Doch was hat Marco Polo eigentlich während dieser ganzen 25 Jahre gemacht? In seinem Buch heißt es lediglich, er sei im Dienste des Großkhans durch dessen riesiges Reich gereist, und habe sich so sein einzigartiges Wissen über den Osten erworben: Prof. Marina Münkler 6 „Also man weiß im Grunde nichts. Die einzige Angabe, die er macht, ist, er sei als Gesandter tätig gewesen. Das kann man nicht ganz ausschließen, denn die Mongolen haben gerne Europäer aber auch andere Nicht-Chinesen in ihre Dienste genommen und ihnen Aufträge gegeben. Möglich wäre auch und das lässt sich schlussfolgern aus den Gegenständen, über die Marco Polo besonders viel weiß, dass er so eine Art Beamter in der Salzbehörde gewesen ist. SPRECHERIN Doch es gibt auch Zweifel an Marco Polos Bericht. MUSIK SPRECHER 1995, London. Die Historikerin Frances Wood veröffentlicht ihr Buch: „Did Marco Polo go to China?“. Und schreibt: Nein, Marco Polo hat es selbst nie bis an den Hof Kublai Khans im heutigen Peking geschafft. Sein Wissen über den Osten: Aufgeschnappt oder aus anderen Quellen abgeschrieben. SPRECHERIN Medien und Öffentlichkeit stürzten sich damals auf das Buch. Der große Marco Polo – nichts weiter als ein gemeiner Schwindler? SPRECHER Tatsächlich ist Polos mehrere hundert Seiten langer Bericht gespickt mit Fehlern und Ungenauigkeiten. Er vertut sich beim Todesdatum von Dschingis Khan, bringt Ortsnamen, Entfernungen und Herrscher durcheinander. SPRECHERIN Als zentralen Beleg für ihre These führt Frances Wood aber etwas anderes an: nämlich dass Polo über viele Dinge nichts geschrieben hat, die ihm doch hätten auffallen müssen, wenn er selbst in China gewesen wäre: die chinesische Teekultur, die Schrift – die chinesische Mauer! Für Marina Münkler ist diese Argumentation zu einfach: Prof. Marina Münkler 6 „Das sind alles argumenta ex silentio, also aus dem Schweigen über bestimmte Sachverhalte. Aber das unterschlägt einerseits die historische Differenz, denn was einem Autor vor 700 Jahren aufgefallen sein muss, kann etwas ganz anderes sein, als das, was Frances Wood, als sie in China war, selbst aufgefallen ist. Dann kommt noch hinzu, dass die chinesische Mauer beispielsweise überhaupt nicht so ausgesehen hat im 13.Jahrhundert, wie sie im 17.Jahrundert dann erbaut ist und bis heute steht. Also zu erwarten, dass Marco Polo etwas beschrieben haben müsste, was es in der Form noch gar nicht gegeben hat, das ist schon reichlich absurd.“ SPRECHER 2013, Tübingen. Der Sinologe Hans-Ulrich Vogel veröffentlicht „Marco Polo was in China“, gewissermaßen eine Gegenschrift zum Buch von Frances Wood. Während Wood sich auf das konzentriert hat, was Polo nicht aufgeschrieben hat, analysiert Vogel das, was er aufgeschrieben hat. Und kommt zu dem Schluss: Marco Polo besaß ein unglaubliches Detailwissen über das mongolische Reich. Vom Papiergeld, das den Venezianer so faszinierte, kennt er etwa nicht nur Farbe und Größe, sondern weiß auch, zu welchem Kurs beschädigtes Geld gegen neues eingetauscht werden konnte. Und: Moderne Laboruntersuchungen an gefundenen Scheinen zeigen: Das Geld wurde – wie von Polo behauptet – tatsächlich aus Rindenfasern des Maulbeerbaums hergestellt. Auch zu Verwaltungsorganisation oder den Feinheiten des Salzhandels hat Polo solches Detailwissen. Kein endgültiger Beweis. Doch vieles scheint darauf hinzudeuten, dass Polo tatsächlich vor Ort war. SPRECHERIN Und doch hat die intensive historische Forschung auch gezeigt: Marco Polo war zu seiner Zeit keine Ausnahme: Auch andere Händler waren bis tief nach Asien gereist, hatten lange Jahre dort verbracht oder sich dauerhaft niedergelassen. Warum also wurde gerade ihm solcher Ruhm zuteil? MUSIK SPRECHER 1298, in einer Gefängniszelle in Genua: Marco Polo ist nach knapp 25 Jahren in der Fremde zurück nach Italien gekommen. Doch drei Jahre später gerät er in den Konflikt der Dauerrivalen Venedig und Genua. Er wird gefangen genommen. Und genau das ist das „Unglück“, das aus Polo letztlich eine Weltberühmtheit machen wird. SPRECHERIN Denn Polo‘s Zellengenosse ist Rustichello da Pisa, ein Autor von höfischen Romanen. Und Rustichello schreibt nieder – so behauptet es jedenfalls das fertige Buch –, was Marco Polo ihm von seinen wundersamen Reisen berichtet. Das ist es, was Marco Polo zu einer absoluten Ausnahme macht. Nicht, dass er als Händler nach Osten gereist war, sondern dass aufgeschrieben wurde, was er dort gesehen hatte. SPRECHER Rustichello macht Polo dabei aber eben nicht zur Hauptfigur eines Abenteuerromans, sondern zum Gewährsmann seines Tatsachenberichts. Prof. Marina Münkler 7 „Wenn es dort heißt “Ihr Kaiser, Könige und Herren, nehmt dies Buch und lasst es euch vorlesen, denn kein anderer seit Adam weiß so viel über den Osten wie Messer Marco allein”, dann steckt darin der eigentliche Geltungsanspruch dieses Buches, nämlich ein Wissen zu vermitteln, das exklusiv ist und das auf Augenzeugenschaft beruht.“ MUSIK SPRECHERIN Gleichzeitig verschwimmt der historische Marco Polo. Wie sehr hat der erfahrene Romanautor Rustichello das, was Marco Polo ihm erzählte, verändert, zusammengefasst, was hat er neu strukturiert, weggelassen oder hinzugedichtet? Niemand weiß das heute. MUSIK SPRECHER Der Bericht, wird zum Bestseller. Was damals, in einer Zeit vor dem Buchdruck, bedeutet: Er wird wie verrückt abgeschrieben und in andere Sprachen übersetzt. Zu Marco Polo und Rustichello kommen so noch weitere „Koautoren“ dazu: Prof. Marina Münkler 8 „Naja das Mittelalter kennt kein Urheberrecht. Das heißt, es gibt kein geschütztes Buch, sondern jeder kann im Grunde genommen, und das passiert beim Abschreiben auch immer wieder, denn das ist ja die Art und Weise, wie Literatur im Mittelalter verbreitet worden ist, (…) und bei diesem Prozess des Abschreibens ist es immer wieder zu Veränderungen gekommen. (...) Das hält diese Veränderer des Textes aber keineswegs davon ab, immer mal wieder einflechten zu lassen, “und das habe ich, Marco Polo, wirklich gesehen, und wenn ich es nicht selbst gesehen hätte würde ich es überhaupt nicht glauben.” SPRECHERIN Etwa 150 Versionen des Reiseberichts sind heute bekannt. Das Original gilt als verloren und kann aus den verschiedenen existierenden Versionen auch nicht rekonstruiert werden. SPRECHER Jede Abschrift, jede neue Version mehrt den Ruhm Marco Polos, als Mann, der mehr weiß über den Osten als jeder andere. Dabei werden Polo unterschiedlichste Aussagen in den Mund gelegt, die sich teilweise sogar widersprechen können. Etwa, wenn es um die sogenannte Gastprostitution in Tibet geht: Dass sich junge, unverheiratete Frauen dort gerne Reisende für eine Nacht ins Bett holen. Prof. Marina Münkler 9 „Da steht in den franko-italienischen Varianten, weil das so sei, dass die tibetischen Frauen möglichst viele Sexualkontakte vor ihrer Heirat gehabt haben sollen, sei es ja sehr nett, wenn man dort vorbeikomme als junger Mann – hingegen steht in den lateinischen Fassungen, das sei ein widerwärtiger und abscheulicher Gebrauch, und an dem man dann quasi erkennen kann, auf welch niedriger zivilisatorischer und kultureller Stufe diese Völker stehen.“ MUSIK SPRECHERIN Trotz der vielen Abschriften hätten Marco Polo und seine Reise irgendwann in Vergessenheit geraten können, wie andere mittelalterliche Autoren auch. Dass das nicht passierte, hat er wohl auch einem anderen berühmten Abenteurer zu verdanken, vermutet Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler: Prof. Marina Münkler 10 Dadurch, dass Cristoph Kolumbus diesen Bericht gelesen hat und im Grunde genommen ihn zum Anlass seiner Reise genommen hat, hat Marco Polo die Grenze zwischen Mittelalter und früher Neuzeit überschreiten können.“ ATMO (Sevilla) SPRECHER 2018, Sevilla in Spanien. Vor der mächtigen gotischen Kathedrale drängen sich die Touristen in einer langen Warteschlange. Im Inneren: Das opulente Grabmal von Christoph Kolumbus. Nur einige Meter weiter aber, hinter einer unscheinbaren Pforte, liegt in der Kolumbus-Bibliothek noch heute die persönliche Marco-Polo Ausgabe des Amerika-Fahrers. In fein geschwungener Handschrift hat er sich am Rand Notizen gemacht. Häufig sind es nur einzelne Wörter, die er herausgeschrieben hat: Prof. Marina Münkler „Man kann sich das anschauen und dann stellt man fest, was ihn interessiert hat: Die Reichtümer des Ostens. Da wo Marco Polo von Perlen, Gold und Edelsteinen schreibt, da notiert das Kolumbus immer ganz eifrig ((am Rand)), das ist das was ihn interessiert.“ MUSIK SPRECHER Nach Amerika wollte Kolumbus nie. Er war auf der Suche nach einem neuen Seeweg nach Indien, um die von Marco Polo beschriebenen Reichtümer von dort nach Europa bringen zu können. Und auch wenn er sich im Kontinent irrte: Er machte sich selbst berühmt, und hielt die Berühmtheit Marco Polos weiter am Leben. SPRECHERIN Durch die vielen Jahrhunderte hindurch, hat sich allerdings durchaus die Form des Mythos Marco Polo geändert. Marco Polo ist eine wandelbare Projektionsfläche für die Tugenden eines Zeitalters. Marina Münkler „Mal ist Marco Polo der ritterliche Abenteurer, mal ist er der venezianische Kaufmann, mal ist er der gläubige Christ. Also das sind ganz unterschiedliche Gestalten, die da hervortreten. (…) Im 18. Jahrhundert interessiert man sich intensiv für Asien und schaut dann auch zurück, was wissen frühere Generationen (...)? Und dann ist man beeindruckt und macht aus Marco Polo so eine Art von frühem Wissenschaftler. Und im 19. Jahrhundert versucht man dann zu zeigen, dass Marco Polo der einzige Reisende ist, der wirklich etwas verstanden hat, weil er eben ein realistisch beschreibender Kaufmann gewesen sei, und im 20. Jahrhundert stellt man sich dann den großen Abenteurer, den man dann in Filmen verarbeiten, kann vor. Also es ändert sich relativ stark, was man sich von Marco Polo so alles vorstellt. Was sich nicht ändert ist, dass man sich unentwegt an ihm abarbeitet.“ MUSIK SPRECHER Diesem Abarbeiten ist zu verdanken, dass wir zumindest bruchstückhaft auch wissen, wie der historische Marco Polo sein Leben nach der Rückkehr nach Venedig verbrachte. Aus historischen Dokumenten lässt sich ablesen, dass er eine Frau aus dem venezianischen Adel heiratete, drei Töchter hatte und sich weiter an Handelsunternehmungen beteiligte. Mit rund 70 Jahren ist er gestorben. Sein Grab ist heute nicht mehr auffindbar. Der mythische Marco Polo aber ist unsterblich geworden. SPRECHERIN Wahrscheinlich ist es auch dieser mythische Marco Polo, dem man die Legende zurechnen muss, die man sich gerne von seinen letzten Stunden erzählt: Auf seinem Totenbett hätten seine Freunde ihn angefleht, nun endlich zuzugeben, dass sein fantastischer Bericht erlogen sei. Marco Polo soll darauf geantwortet haben: „Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe.“…
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1 EURASIEN IM MITTELALTER - Globalisierung um das Jahr 1000 20:55
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20:55Große Veränderungen passierten um das Jahr 1000: Die Wikinger kamen in Neufundland an, der Welthandel begann sich vor allem in Asien und Afrika zu entwickeln, in Europa brachten mildes Klima und Erfindungen Agrarüberschuss, die Städte wuchsen. Die Epoche war aber auch von Endzeitstimmung geprägt. Von Brigitte Kramer (BR 2022) Credits Autorin: Brigitte Kramer Regie: Frank Halbach Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann Technik:Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Johannes Preiser-Kapeller, Prof. Dr. Kristin Skottki Linktipps: Alles Geschichte (2024): Altes Arabien – Als Spanien arabisch war Fast 800 Jahre lang herrschten auf der Iberischen Halbinsel arabische Fürsten, Emire, Kalifen. Diese Epoche wird Al Andalus genannt. Al Andalus war eine Glanzzeit für Kultur und Naturwissenschaften. Aber nicht nur das: Christen, Juden und Muslime lebten in dieser Epoche lange meist friedlich mit- und nebeneinander. Aber ab dem 12. Jahrhundert kam es zu immer mehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2013) JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2020): Die Grönland-Mission Im Jahr 999 bekam der Wikinger Leif Eriksson vom norwegischen König den Auftrag, das Gebiet im Atlantik zu christianisieren. Kirchen wurden gebaut und Klöster errichtet. Doch in der abgeschiedenen Region wurde der neue Glaube kaum praktiziert. Der Grund: fehlende Priester. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHERIN Im Jahr 1000 eröffneten die Fahrten der Wikinger von Skandinavien nach Kanada erstmals eine Route von Europa nach Amerika. Die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen setzt dieses Ereignis in ihrem Buch „Das Jahr 1000, als die Globalisierung begann“ mit der Entstehung eines globalen Netzwerkes gleich: Waren, Wissen und Menschen konnten erstmals quer über den Globus transportiert werden – theoretisch zumindest. SPRECHER Mitgekriegt hat die Anlandung von Leif Eriksson vor Neufundland allerdings kaum jemand. Und viel passiert ist auf dieser ersten, europäisch-amerikanischen Achse auch nicht. Anderswo auf dem Globus dagegen schon. Hansens knapp 400 Seiten dickes Buch erklärt, wie die Welt um die erste Jahrtausendwende aussah, wer mit wem wo Handel trieb und wie groß die kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede der Regionen damals waren. Geschätzte 250 Millionen Menschen lebten damals auf der Welt, davon allein 100 Millionen in China. Die meisten Menschen wussten gar nichts von anderen Völkern und Kulturen. Dazu fehlten ihnen Bildung und Zeit. Ihr Leben glich sich in gewisser Weise, sagt der Wiener Historiker Johannes Preiser-Kapeller: O 0 JPK 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig und deren Leben ist natürlich ein sehr stark von harter Arbeit, von Entbehrungen geprägtes. Das können wir auch sehen, etwa in paläo-pathologischen Befunden. Wenn man Skelette dieser Menschen sich anschaut, dass die eigentlich starke Belastungserscheinungen haben, auch immer wieder von Phasen durch, wenn nicht von Hunger, zumindest von Mangelernährung. Im Gegensatz etwa zu den Skeletten der Eliten, wo man eben zeigen kann, dass die besser ernährt waren. Die waren größer, die haben mehr Fleisch konsumiert. Die haben manchmal mehr Verletzungen, weil sie dann eben im Krieg kämpften. SPRECHERIN Abgesehen von einigen Gelehrten der islamischen Welt hatten im Jahr 1000 nur wenige überhaupt eine Vorstellung von der Welt. Die vollständigste Weltkarte – die den größten Teil Afro-Eurasiens, aber nichts von Amerika zeigte –wurde erst im Jahr 1154 auf Sizilien angefertigt. MUSIK SPRECHER Die Welt war also alles andere als globalisiert, wenn man den Begriff im modernen Zusammenhang versteht: Alles ist weltweit vernetzt und verfügbar, heute vor allem durch’s Internet, aber auch durch Containerschiffe, Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge. Der Begriff Globalisierung, geprägt in den 1960er Jahren, hat etwas mit Gleichzeitigkeit, Geschwindigkeit und Technologie zu tun – und ist in diesem Sinne natürlich nicht auf das Jahr 1000 anwendbar. SPRECHERIN Immerhin gibt es an der Wende vom Früh- zum Hochmittelalter vielleicht aber dennoch „globalisierende Tendenzen“. Kleriker und Herrschende kommunizierten zunehmend schriftlich. Die Europäer begannen, Arabisch zu lernen und arabische Texte zu übersetzen, und so gelangten immer mehr Kenntnisse über die islamische Welt nach Europa. Auch spirituell war die Welt in Bewegung: Die Weltreligionen begannen, sich zu verbreiten. Das Christentum kam nach West-, Ost- und Nordeuropa, zeitgleich breitete sich der Islam in Westafrika und Zentralasien aus. Und christliche und muslimische Lehren erkannten das Judentum als legitime Religion an. Kristin Skottki ist Mittelalterexpertin. Sie lehrt an der Universität von Bayreuth: O 1 Skottki Das Mittelalter ist ja eigentlich ne Zeit, die in der Global- Geschichtsschreibung, sagen wir mal immer relativ hinten runterfällt, weil man immer davon ausgeht, dass natürlich die Globalisierung ein Phänomen der Moderne ist. Oder die meisten setzen das eben frühestens ab 1500 an, mit der Entdeckung der Amerikas … SPRECHER Entdeckung Amerikas durch die Spanier, die darüber auch ausführlich und zeitnah berichtet haben, im Gegensatz zu den Skandinaviern 500 Jahre zuvor. O 2 Skottki Die Quellenlage für Westeuropa um Eintausend ist einfach nicht besonders gut, so dass das Alltagsleben sich da relativ schlecht nachvollziehen lässt. SPRECHERIN Auch Johannes Preiser-Kapeller hält Hansens Einordnung der Nordamerika-Expeditionen für gewagt: O 3 JPK Hansen in ihrem Buch verknüpft das dann sehr spekulativ mit der Idee, dass dann die Wikinger vielleicht sogar weiter bis Mittelamerika vorgestoßen sein, weil dort in bestimmten Darstellungen der Maya auf blonde Menschen auftauchen. Das ist aber reine Spekulation. Also wir haben keine Belege, dass die Wikinger über diese kurzzeitigen Besitzungen oder Kolonien, die sie da in Nordamerika hatten, weiter nach Süden vorgestoßen sind. MUSIK SPRECHER Als Quelle der Amerika-Expeditionen dient vor allem die Vinland-Saga – Vinland war der Name, den die Nordmänner einer Region an der amerikanischen Ostküste gaben, vermutlich zwischen New Jersey und dem Sankt-Lorenz-Golf. Die Texte der Saga, die erst im 13. und 14. Jahrhundert verfasst wurden, also mehrere hundert Jahre nach den Ereignissen, dienten der Unterhaltung aber auch der Verherrlichung von Ruhmestaten der Vorfahren – viele Historiker lehnen sie als zuverlässige Quellen ab. SPRECHERIN Laut Vinland-Saga legte Leif Eriksson genau im Jahr Tausend im Nordosten Kanadas an. Er war von Island über Grönland gekommen und suchte vor allem Holz zum Schiffsbau. Es folgten mehrere Expeditionen, bei denen mit den kanadischen Ureinwohnern Handel aufgebaut wurde. MUSIK SPRECHER Unabhängig von den Sagas gibt es handfeste Beweise für die Präsenz der Wikinger in Nordamerika: Im Jahr 1960 begann das norwegische Paar Helge und Anne-Stine Ingstad mit Ausgrabungen an der kanadischen Küste. Die Beschaffenheit der Landschaft ist dort so, wie sie in der Grönland-Saga beschrieben wird: Ebenes, bewaldetes Land, das sanft zum Meer hin abfällt. In L’Anse aux Meadows, an der äußersten Nordküste der kanadischen Insel Neufundland, legten die Ingstads über mehrere Jahre insgesamt acht Gebäude frei, in denen sie Reste einer Schmiede, einer Feuerstelle und verrostete Nägel fanden. Eisenverarbeitung war damals in Nordamerika weitgehend unbekannt. Schließlich fanden sie auch eine bronzene Ringnadel. Skandinavier nutzten solche Nadeln, um damit ihre Umhänge im Nacken zusammenzuhalten. Doch wie lange die Skandinavier dort waren, wie wichtig der Ort war und wie weit sie auf dem amerikanischen Kontinent herumkamen – dazu fehlen verlässliche Quellen. SPRECHERIN Valerie Hansen schreibt, der Kontakt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen habe sich auf einige Gespräche, gelegentliche Tauschgeschäfte und hin und wieder Handgemenge reduziert. Schließlich gaben die Skandinavier nach wenigen Jahren L’Anse aux Meadows auf und wandten sich anderen Gebieten zu. Selbst Hansen kommt somit zu dem Schluss, dass, verglichen mit anderen Begegnungen der Skandinavier um das Jahr 1000, der Kontakt mit den amerikanischen Ureinwohnern kaum langfristige Auswirkungen hatte. Allerdings gibt es seit den 980er Jahren bis ins späte 14., frühe 15. Jahrhundert anderswo im geografisch als Nordamerika zu betrachtenden Teil der Welt stabile, europäische Siedlungen: O 4 JPK Was aber stimmt, ist, dass Grönland dauerhaft besiedelt wird. Da entstehen zwei Siedlungen und Grönland ist ja geografisch Teil schon von Nordamerika. Und diese Kolonien wären tatsächlich mit dem Rest Europas vernetzt. MUSIK SPRECHER Wie sah Westeuropa rund um das Jahr 1000 aus? Es gab kaum Städte. Paris, eines der europäischen Zentren, hatte etwa 20.000 bis 30.000 Einwohner. Die Herrscher hatten noch keinen festen Wohnsitz, und es gab einen sehr starken Christianisierungs-Schub. Karl der Große hatte in Europa schon vor 200 Jahren begonnen, das Christentum zu verbreiten, auch mit Gewalt. Und jetzt? Kristin Skottki: O 5 Skottki Da sind ganz interessanterweise um 1000 vor allem die einheimischen Herrscher:innen dabei, selbst das Christentum anzunehmen, weil sich das für sie sozusagen als doppelter Gewinn herausstellt. Einerseits können sie damit nämlich die missionarischen Tätigkeiten ihrer Nachbarn abwehren, und andererseits ist es natürlich die schriftliche Kultur, die mit dem Christentum Einzug hält und natürlich auch die Institution wie eben Kirchen und Klöster, eine ganz wichtige Herrschafts- und Machtbasis. SPRECHERIN Die europäische Missionierung verfolgte die Strategie der Ausbreitung des Glaubens von oben nach unten: O 6 Skottki Dann gibt es sozusagen die kirchliche Nacharbeit durch die Priester, Prediger, Bischöfe. Und das gilt natürlich insbesondere für Mitteleuropa und Osteuropa. Und wann kommt sozusagen das Christentum dann wirklich bei den Leuten an? Ich würde jetzt einfach mal so behaupten nach zwei bis drei Generationen, so 60 bis 90 Jahre, nachdem eben so ein Territorium offiziell christlich geworden ist, können wir wohl schon davon ausgehen, dass dann auch in der Tiefe die Leute vertraut sind mit dem Christentum. MUSIK SPRECHER Und politisch? Wo heute Teile von Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich sind, lag das Ostfrankenreich. Es wurde regiert von der sächsischen Dynastie der Ottonen, den damals mächtigsten Männern Westeuropas. Und wie lebten die Menschen in diesem Reich? Die Bauern stellten auf Fruchtwechsel um, was die Ernten steigerte und die Versorgung mit Nahrung verbesserte. Sie begannen, zwischen Rüben und Klee, Gerste und Weizen abzuwechseln. Pferdegezogene Pflüge, Windmühlen, eisernes Werkzeug kamen erstmals zum Einsatz. SPRECHERIN Immer mehr Fläche wurde landwirtschaftlich genutzt – Europas Landschaft veränderte sich. Die Bevölkerung wuchs, auch weil in Westeuropa zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert die so genannte mittelalterliche Warmzeit herrschte. SPRECHER Globalisiert, also vernetzt, waren die Menschen hier aber nicht. Westeuropa war damals, wie Johannes Preiser-Kapeller sagt, nur das „westliche Anhängsel“ einer Welt, die sich vor allem rund um den Indischen Ozean und in Asien entwickelte. MUSIK SPRECHERIN Die chinesische Hafenstadt Guangzhou war damals zum Beispiel schon eine Millionenstadt. Metallarbeiter hatten dort um 1000 gelernt, Eisendraht zu härten, Magnetnadeln daraus zu fertigen und so die ersten frei beweglichen Kompassnadeln herzustellen. Der Kompass brachte den chinesischen Handelsschiffen enorme Vorteile, denn er zeigte im Gegensatz zum Astrolabium auch bei bedecktem Himmel den Weg. SPRECHER Die Chinesen exportierten am Übergang vom 10. zum 11. Jahrhundert hochwertige Keramik und andere Waren in den Mittleren Osten, nach Afrika, Indien und Südostasien, und importierten vor allem Aromastoffe, Perlen und Edelsteine. China befand sich nicht erst in der Phase der Vorbereitung auf die Globalisierung, es lebte mittendrin, wie Valerie Hansen schreibt. Auch Chinesen der unteren städtischen Schichten profitierten von den Importwaren, zum Beispiel für Körperdüfte und Raum-Aromen: Die Menschen badeten selten. SPRECHERIN Zurück ins „rückständige“ Europa. Kristin Skottki findet hier an der ersten Jahrtausendwende viele Ereignisse spannender als die Fahrten der Skandinavier über den Atlantik: O 7 Skottki Das Kalifat von Cordoba um die Zeit ist für mich persönlich sogar eigentlich der fast interessanteste Ort in Westeuropa um 1000 – wirklich eine internationale Metropole. Offensichtlich hat eben diese Gesellschaft derartig prosperiert, weil man eben besonders tolerant und weltoffen war. SPRECHER Córdoba in Südspanien war mit 450.000 Menschen die größte Stadt Europas. Auf der Iberischen Halbinsel lebten Moslems, Christen und Juden unter muslimischer Herrschaft, die fast 800 Jahre dauerte. O 8 Skottki Da ist eben Wissensaustausch da, da haben wir eine internationale Metropole, die eingebunden ist in diese globalisierte Welt, die Valerie Hansen ja so stark betont. Sie lässt ja Westeuropa doch auch in ihrem Buch weitestgehend außen vor. Genau aus diesen Gründen, weil da einfach, muss man sagen, im Vergleich zu anderen Regionen der Welt nicht so wahnsinnig viel Spannendes passiert ist. Also es ist ja auch ein Plädoyer gegen den Eurozentrismus. MUSIK SPRECHERIN Doch bleiben wir noch zumindest zum Teil in Europa, denn nicht nur auf der iberischen Halbinsel, auch im östlichen Mittelmeerraum netzwerkte man schon. Das Byzantinische Reich, das sich um das Jahr 1000 auf Teile der heutigen Türkei und des Balkans beschränkte, brachte bedeutende Werke des Rechts, der Literatur und Kunst hervor und spielte bei der Christianisierung des Balkanraums und Russlands eine wichtige Rolle. In der Hauptstadt Konstantinopel – heute Istanbul – vertrat der Patriarch die Oströmische Kirche – und stand mit dem Papst in ewigem Konkurrenzkampf, gegenseitige Exkommunikation inbegriffen. MUSIK SPRECHER Byzanz stand auch mit Skandinavien im Austausch, denn die Nordmänner legten nicht nur nach Westen ab, sie erkundeten auch die Ostsee: Etwa um das Jahr 1000 eröffneten sie neue Routen in Osteuropa, die viel ergiebiger, langfristiger und folgenschwerer waren als die Verbindung über den Atlantik. Heute kennen wir diese Skandinavier als die Rus, die Russland ihren Namen gaben. Sie waren den Bevölkerungsgruppen der Wälder Osteuropas überlegen. Diese lebten von Fischfang und Fallenstellen und betrieben sozusagen ambulante Landwirtschaft: Im Frühjahr säten sie bestimmte Pflanzen, die sie bei ihrer Rückkehr im Herbst ernteten. SPRECHERIN Die skandinavischen Einwanderer handelten mit Pelzen und versklavten Einheimische, die sie an byzantinische und muslimische Abnehmer verkauften: In Konstantinopel und Bagdad waren „slawische Sklaven“ sehr gefragt. Die Wörter ähneln sich seit dem elften Jahrhundert, als das griechische Wort Sklabos, Slawe, seine ursprüngliche Bedeutung verlor und für „Sklave“ verwendet wurde, wie Hansen erklärt. Das Gold und Silber, das die Rus in Osteuropa in großen Mengen verdienten, revolutionierte die Wirtschaft in der alten Heimat: Im heutigen Norwegen, Schweden und Dänemark entstanden Städte, Wohlstand verbreitete sich. Der Handel mit osteuropäischen Pelzen und Sklaven war also viel lukrativer als die Verbindungen nach Neufundland. SPRECHER Wachstum, Fortschritt, Entwicklung - auch durch Kriege und Sklaverei. Das späte 10., frühe 11. Jahrhundert war eine wegweisende Zeit für die Europäer Wie empfanden die Menschen ihre Gegenwart? Hatten sie das Gefühl, in einer Zeit zu leben, die etwas Besonderes war? Johannes Preiser-Kapeller erkennt vor allem eine Phase der Stabilität: O 9 JPK Also etwa in Westeuropa enden dann im späten 10. Jahrhundert die Einfälle der Ungarn in Mitteleuropa, der arabischen Seefahrer im Mittelmeerraum und auch allmählich der Wikinger in Skandinavien. Das heißt, es wird etwas ruhiger, auch an den Außengrenzen. Ähnliches kann man für Byzanz beobachten. O 10 JPK Was wir uns aber nicht vorstellen dürfen, ist, dass deswegen dann eine große Aufbruchsstimmung gibt. Also man hat das jetzt nicht wahrgenommen, so wie das heute oft ist mit einem Fortschrittsnarrativ. Ja, jetzt beginnt das neue Jahrtausend und alles wird besser. Das ist vor allem eine moderne Idee. SPRECHERIN Wer hat sich damals in der christlichen Welt überhaupt Gedanken über eine mögliche Zäsur gemacht, wie sie das runde Jahr 1000 bedeuten könnte? – Vor allem Kleriker spekulierten über das volle Jahrtausend seit Christi Geburt, aber auch nur einige. SPRECHER Der Großteil der Weltbevölkerung lebte ohnehin in einer anderen Zeitrechnung, und auch in Europa wird die Datierung, die mit Christi Geburt beginnt, erst um 1500 von der Kirche offiziell anerkannt. Viele nennen das Jahr 1000 einfach das zweite Jahr der Herrschaft von Papst Silvester dem Zweiten. Und die, die im Jahr 1000 leben und es als ein besonderes Datum wahrnehmen ... O 11 JPK … die sind doch sehr stark in Denkmustern drinnen, die die Vergangenheit verklären und weniger auf eine hoffnungsvolle Zukunft setzen. SPRECHERIN Also herrschte eher eine gedrückte Stimmung? Es hing tatsächlich etwas in der Luft. Kristin Skottki: O 12 Skottki Wie kommen die Leute überhaupt darauf, im Jahr 1000 vielleicht irgendwas Besonderes zu erwarten? Und zwar gibt es so ein paar Passagen in der Offenbarung des Johannes, die man dann wiederum mit Texten aus dem Alten Testament auch kombiniert hat. Und in der Offenbarung des Johannes wird beispielsweise beschrieben, dass eben nach 1000 Jahren wird der Antichrist für dreieinhalb Jahre freigelassen und treibt sein Unwesen und dann besiegt ihn Christus. SPRECHER Die Texte beschreiben in sehr bildhafter Sprache Katastrophen, Kriege und Seuchen als Zeichen dafür, dass Christus kommen und das Weltgericht abhalten wird. Glaubten die Menschen also, das Jüngste Gericht sei nah? Tatsächlich wurden viele Kirchen gebaut und viele Pilgerfahrten unternommen, wohl um vorsorglich das eigene Sündenkonto auszugleichen. O 13 Skottki Das Interessante ist aber, dass diese biblischen Texte viel weniger auf die Hölle fokussieren. Das interessiert die eigentlich weniger als vielmehr eben diese Hoffnung auf das himmlische Reich, auf das Himmelreich, auf diese Erlösung, auf die Auferstehung. Also witzigerweise ist tatsächlich die Endzeiterwartung grundsätzlich nach diesem biblischen Zeugen erst mal etwas, worauf man sich freuen kann. Denn die Rezipienten dieser Texte, die waren ja davon überzeugt, sie sind ja Christen, sie sind wahrhaft Gläubige, also wird das für sie gut ausgehen. MUSIK SPRECHERIN Vorfreude auf das Jüngste Gericht? Die Angst vor Hölle und Fegefeuer wurde erst im 13. Jahrhundert gezielt verbreitet. Glückselige Christen des 11. Jahrhunderts also? Die Historiker sind sich uneins, weil sich das ohnehin magere Quellenmaterial nicht eindeutig interpretieren lässt: O 14 Skottki Das Hauptproblem ist natürlich, dass im Nachhinein Endzeiterwartungen immer enttäuscht wurden, bis heute ist die Welt noch nicht komplett untergegangen, und das war im Grunde auch eigentlich etwas Peinliches für die Christen im Mittelalter. Denn der Kirchenvater Augustinus, der ja schon im fünften Jahrhundert nach Christus lebte, aber im Mittelalter extrem wichtig war, der hatte den Christen im Grunde ein Beschäftigungsverbot für die Endzeit auferlegt. ATMO (Uhr tickt) SPRECHER Einige, gerade Intellektuelle, warteten also nicht auf eine Zukunft in einer globalisierten Welt, sondern auf den Untergang der Welt. Leif Eriksson, der vermutlich erste Europäer auf amerikanischem Boden spielte in der Epoche kaum eine Rolle, ja die Entdeckungsfahrten waren nicht einmal für die Nordmänner selbst von großer wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung – abgesehen davon, dass sie den Stoff für Heldensagen lieferten. SPRECHERIN All das weiß auch die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen. Sie nutzt die Ereignisse in ihrer Heimat vor allem dazu, um unser Interesse an der ersten Jahrtausendwende zu wecken. Die Welt war viel vernetzter, als wir das auf Anhieb vermuten. Globalisiert war sie allerdings nicht. Dazu tickten die Uhren damals noch zu langsam. MUSIK & ATMO…
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1 EURASIEN IM MITTELALTER - Reiternomaden 21:36
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21:36In den weiten Steppengebieten Zentralasiens lebten über Jahrtausende Reiternomaden, die von Zeit zu Zeit auch in den Westen vorrückten. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus gründeten Hunnen, Awaren und Ungarn in Europa drei aufeinander folgende frühmittelalterliche Reiche.Von Thomas Grasberger (BR 2024) Credits Autor: Thomas Grasberger Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Christopher Mann Technik: Laura Picerno Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Arnold Muhl Linktipps: Radiowissen (2022): Attila und die Hunnen – Das Kriegervolk aus der Steppe Attila heißt "Väterchen", aber am Rhein und am Tiber nannte man den Hunnenkönig nur die "Geißel Gottes". Wenn seine Reitertrupps unter schrecklichem Kriegsgeheul auf ihre Gegner losstürmten, schien sich die Hölle geöffnet zu haben: Mit ihren kahl rasierten Schädeln, plattgedrückten Nasen und narbenzerfurchten Gesichtern sahen sie wie Dämonen aus. (BR 2010) JETZT ANHÖREN ZDF (2019): Die Geschichte von Mensch und Pferd Wann, wo und wie wurde erstmals das Pferd gezähmt? Der Film folgt den Spuren einer einzigartigen Beziehung zwischen Menschen und einem Tier, eine Beziehung, die die Welt verändert hat. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2021): Die Gene der Barbaren Wenig ist wirklich bekannt über die Gruppen von Menschen die zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert durch Europa, Asien und Afrika zogen. Wer waren sie? Und was trieb sie an? Was wir über sie wissen und erzählen, beruht auf einer recht dünnen Quellenlage. DNA-Analysen könnten einige ihrer Geheimnisse verraten. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK Erzähler „Ex oriente lux“ – lautet ein lateinisches Schlagwort: „Aus dem Osten kommt das Licht!“ Gemeint ist das Tageslicht der aufgehenden Sonne. Manchmal aber erschienen am östlichen Horizont auch dunkle Wolken. Staubwolken, aus denen urplötzlich furchteinflößende, schreiende Gestalten auf kleinen Pferden heraus stürmten. Zitator „Gedrungene“ Figuren mit „starken Gliedern“ und „muskulösen Nacken“, „entsetzlich entstellt und gekrümmt“, sodass man sie für „zweibeinige Bestien“ halten könnte. Erzählerin Schreibt der römische Historiker Ammianus Marcellinus im späten vierten Jahrhundert nach Christus. Die berittenen Fremdlinge, die Ammianus in seiner Römischen Geschichte dämonisiert, kommen aus den Weiten Zentralasiens. Es sind die Hunnen, die als erstes Steppenvolk bis nach Mittel- und Westeuropa vorstoßen. Erzähler Für die Römer sind sie nur wilde „Barbaren“ ohne festen Wohnsitz. Auf dem Rücken ihrer Pferde lebend, ziehen sie – stets gierig nach Gold – plündernd, mordend und brandschatzend durch die Lande. Erzählerin Was die Historiker der Spätantike über die Hunnen berichten, ist nicht völlig falsch, aber voller Klischees und Stereotype. Und genau dieses Bild vom grausamen Steppenkrieger hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben und lange nachgewirkt. MUSIK Erzähler Denn nach den Hunnen kamen in den folgenden Jahrhunderten weitere Reiternomaden: Awaren, Magyaren, Mongolen. Dass diese zähen und kampferprobten Steppenreiter mehr waren als nur marodierende Invasoren und blutrünstige Krieger, belegen heute viele archäologische Befunde und wertvolle Kunstschätze. Als Hirten, Handwerker und Händler brachten sie ihre eigenen Moden, Bräuche und Technologien mit nach Europa. ATMO (MUSEUM GERÄUSCHE) Erzähler Im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale waren 2023 zahlreiche Nomaden-Schätze zu bewundern. Prunkvolle Anhänger aus Gold und Granate, reich verzierte hunnische Gürtelschnallen und Fibeln oder eine künstlerisch gestaltete Schale mit einem gehörnten Löwen aus einem awarischen Schatz. „Reiternomaden in Europa“ hieß die Ausstellung, die ihre Besucher in eine schillernde Welt entführte: MUSIK Erzählerin Die Welt der Hunnen, Awaren und Ungarn. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus gründeten sie in Europa drei aufeinander folgende frühmittelalterliche Reiche. Ihre Basislager schlugen sie am westlichsten Rand der eurasischen Steppenzone auf. Diese unendlich weite Landschaft erstreckt sich über 7000 Kilometer, von der Mongolei und dem Nordwesten Chinas bis ins heutige Ungarn und an die Ostgrenze Österreichs. Erzähler In der pannonischen Tiefebene, dem sogenannten Karpatenbecken, fanden die Nomadenvölker vertrautes Terrain, sagt Arnold Muhl, Kurator am Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Denn Klima und Vegetation waren hier ganz ähnlich wie in den kargen Gegenden Innerasiens. Dort war es oft sehr heiß, aber auch sehr kalt, in jedem Fall aber trocken und für Ackerbau ungeeignet. ZSP 1 Muhl Halbwüsten 0,17 Also verlegt man sich auf die Viehwirtschaft, und zwar anspruchslose Tiere. Und damit das überhaupt trägt, muss das auch eine gewisse Anzahl sein. Aber dafür muss ich halt die verschiedensten Weideplätze aufsuchen und wenn irgendwas abgegrast ist, dann muss ich halt dann wirklich schon mehrere Dutzend Kilometer weiterziehen. Erzähler Die Reiterhirten waren also ständig unterwegs mit ihren Herden – mit Kamelen, Schafen, Ziegen, Rindern, vor allem aber mit Pferden. Bevor Kleinkinder richtig laufen konnten, saßen sie schon auf dem nicht allzu hohen Ross. Gut reiten zu können, das war für Hirten überlebenswichtig. Denn auch inner-nomadische Konkurrenzkämpfe um gute Weideplätze waren keine Seltenheit. ZSP 2 Muhl Pferd 0,16 Nicht umsonst ist das Pferd das verehrteste Tier bei den Reiternomaden. Wir wissen schon, dass im vierten Jahrtausend vor Christus die Leute dort Pferdewirtschaft betrieben, und das Pferd ist aus dieser Art der des Wirtschaftens nicht herauszudenken. MUSIK Erzählerin Wer als Hirte ständig unterwegs ist, reist besser mit leichtem Gepäck. Auch dauerhafte Behausungen wären hinderlich. Deshalb haben sich bei den Reitervölkern die Jurten durchgesetzt. Jene traditionellen Nomaden-Zelte, die in Kasachstan, Kirgisien und der Mongolei bis heute weit verbreitet sind. Erzähler Die in Halle ausgestellte kirgisische Jurte hat einen Durchmesser von etwa acht und eine Höhe von vier Metern. Ihre runde Form bietet wenig Angriffsfläche für den kalten Wind der Steppe. Vor allem aber lässt sich so eine Jurte leicht auf- und abbauen. ZSP 3 Muhl Jurte 0,15 Diese geniale Konstruktion, die hat sich über die Jahrtausende bewährt. Ein Scherengitter, das sie zusammenklappen können. Dann einzelne Spanten, die auch sehr leicht sind, und sofort haben sie, wenn sie noch viel Filz haben, eine wunderbare, warme Behausung. MUSIK Erzählerin Pferd und Jurte haben eine lange Tradition. Bereits 1000 Jahre vor dem Einzug der Hunnen berichtet der antike griechische Historiker Herodot im fünften vorchristlichen Jahrhundert von den Kimmeriern und den Skythen. Die Kimmerier – eine Föderation von einzelnen Stammesgruppen – tauchten im zehnten Jahrhundert vor Christus am östlichen Rand Europas auf. ZSP 4 Muhl Kimmerier 0,13 Es gibt einige wenige Spuren, aber das waren eben auch Reiternomaden. Und die wollten hier gar nicht siedeln. Das wäre auch gar nicht ihr Lebensraum gewesen, sondern man suchte schon Profit zu schlagen, vor allem durch Sklaverei, Sklavenhandel. Erzählerin Mitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts werden die Kimmerier vertrieben, von den Skythen, die in den Steppengebieten der Ukraine und Südrusslands das erste Nomadenreich Europas errichten. Auch für diese Reiternomaden ist der Menschenhandel ein lukratives Geschäftsmodell. ZSP 5 Muhl Sklaven 0,16 Bei den Skythen ist es haargenau das Gleiche. Und letztendlich wissen wir das auch von den Awaren und den Magyaren, also die sogenannten Ungarn. Und später auch die Mongolen. Das war ein festes Budget, das schon eingeplant ist, dass man Leute versklavt und verkauft. MUSIK Erzählerin Tausend Jahre, nachdem Kimmerier und Skythen aus der Weltgeschichte verschwunden waren, tauchten die Hunnen in Europa auf. Über ihre genaue Herkunft und Ethnizität streiten die Gelehrten. Eine direkte Abstammung von den chinesischen Reiternomaden der Xiongnu hält die neuere Forschung für unwahrscheinlich. Eventuell könnte der prestigeträchtige Name „Hunnen“ von anderen, ethnisch heterogenen Reiternomaden-Gruppen übernommen worden sein. ZSP 6 Muhl Hunnen 0,24 Wir wissen aber nur, dass diese Hunnen tatsächlich aus der Mongolei kamen und dann nach dem Prinzip einer Wanderlawine viele Völker mit sich gerissen haben. Zum Schluss tauchten die irgendwo auf und haben gesagt: Passt mal auf, entweder ihr werdet Hunnen oder ihr sterbt. Da haben die meisten gesagt: Ja, machen wir halt mit. Und es gab hier natürlich auch viel zu verdienen. Also der Khan der Hunnen der hat nur damit zu tun gehabt, alle Leute zufriedenzustellen. Erzähler Vielleicht rührt daher jene „schreckliche Begierde“, „fremdes Gut zu rauben“, wie der Historiker Ammianus klagt. Für ihn waren die Hunnen, die seit 375 nach Christus das Abendland aufmischten und eine zweihundert Jahre dauernde Völkerwanderung auslösten, die furchtbarsten aller Krieger, Zitator weil sie im Fernkampf mit Pfeilen kämpfen, die mit spitzen Knochen anstelle von Pfeilspitzen (…) zusammengefügt sind. Erzähler In der Halleschen Ausstellung war ein Lendenwirbelknochen zu sehen, durchschlagen von einer hunnischen Pfeilspitze. Eine tödliche Verletzung, die nicht selten war. Denn die geschwungenen Reflexbögen der Hunnen schleuderten die Pfeile mit enormer Wucht, sagt Kurator Muhl. ZSP 7 Muhl dreikantig 0,13 Das durchschlägt alles. Und das Problem ist, die Pfeile sind nicht normal wie bei uns, zweikantig, sondern dreikantig. Und das ist ein Problem, denn dreikantige Wunden, die wachsen nicht von alleine zu. Die kann ich auch ganz schlecht nähen. Also das ist absolut tödlich. Erzählerin Vor allem, wenn hunderte solcher Geschosse auf die Gegner niedergehen. Wie man sich so einen Pfeilhagel vorstellen muss, zeigte ein Videofilm in der Ausstellung. Der ungarische Bogenbauer Lajos Kassai, Jahrgang 1960, ist ein Meister des traditionellen Pferdebogenschießens. Ohne Sattel reitet er im vollen Galopp und schießt seine Pfeile im Sekundentakt ab – nach vorne, nach hinten, zur Seite. Selbst im Sprung trifft Kassai noch ein ums andere mal ins Ziel. ZSP 8 Muhl Video 0,15 Mit einer Frequenz schießt er da und trifft jedes Mal. Also das ist irre. Und die konnten das alle. So was gab´s in Europa gar nicht. Und wenn davon 300 Leute auf einen zukommen, dann machen sie gar nichts mehr. Dann nützt ihr kleiner Schild und ihr kleines Kettenhemdchen gar nix. Erzähler Kein Wunder, dass die Steppenkrieger gefürchtet waren. Zumal sie auch recht exotisch aussahen. Allerdings waren nur 20 Prozent der hunnischen Krieger vom Phänotyp erkennbar asiatisch, sagen Wissenschaftler. Viele hunnische Verbündete waren nämlich Germanen, Alanen oder Sarmaten. Ein buntes Völkergemisch also, allerdings nur an der Basis. ZSP 9 Muhl hunnischer Kern 0,20 Die Hunnen haben immer die Oberschicht gestellt. Die Familie um Attila beispielsweise und seine Söhne und seine Brüder, die stellten den Kern. In dieses beratende Gremium, in diesen Generalstab konnten natürlich dann auch germanische Häuptlinge und sarmatische Häuptlinge mit aufsteigen. Das ist kein Problem. Aber die Zügel in der Hand hatte immer dann tatsächlich die asiatische Familie. MUSIK Erzählerin Der legendenumrankte, charismatische Hunnenkönig Attila ging als „Geißel Gottes“ ins kollektive Gedächtnis ein. Seit 444 Alleinherrscher der Hunnen, führte er sein Heer bei Kriegszügen gegen Ost- und Westrom bis nach Mittel- und Westeuropa. Zum militärischen Showdown mit Westrom kam es dann im Nordosten Frankreichs. Erzähler Dort traf Attilas Heer im Juni 451 auf den einstigen Verbündeten Flavius Aëtius. Der war zwischenzeitlich der mächtigste Mann Westroms. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern verlief für beide Seiten sehr verlustreich und endete ohne klaren Sieger. Attilas Nimbus aber war danach zerstört, sagt Arnold Muhl. ZSP 10 Muhl Attila 0,31 Die Hunnen sind nur so lange erfolgreich, wie Attila es schafft, andere zu besiegen, sich genügend Gold oder Besitztümer anzueignen, die er verteilen kann. Jetzt kommt er dann aber auf die Katalaunischen Felder, trifft auf Aëtius, der selber auch bei den Hunnen eine Zeit lang gelebt hat. Der kennt die Taktik. Und dann passiert eines: Attila gewinnt nicht. Es wird zwar immer gesagt, er hätte verloren. Stimmt nicht. Es ging unentschieden aus, aber Attila zog sich zurück, weil er gemerkt hat: Da kommt er nicht weiter. Und da hieß es: Oh, der ist ja doch nicht unschlagbar. Erzählerin Im Jahr nach der unentschiedenen Schlacht stirbt Attila. Seine Söhne können nicht an die Erfolge des Vaters anknüpfen. Es folgen militärische Niederlagen und bald auch inner-hunnische Konflikte. Das Konstrukt ihrer Herrschaft zerfällt. Und die Clans ziehen mit ihren Herden zurück in die Steppe. MUSIK Erzähler Die Geschichte der Hunnen in Europa dauert nur 80 Jahre. Entsprechend gering sind die Siedlungsspuren, die sie hinterlassen haben. Aber das Bild vom blutrünstigen Steppenkrieger prägen sie höchst nachhaltig. Jahrhundertelang wird es in den Köpfen der Europäer herumspuken. Erzählerin Teils zu Unrecht, wie Wissenschaftler der englischen Universität Cambridge zeigen konnten. Viele der ehemaligen Reiternomaden waren nämlich sesshaft geworden und trieben Viehzucht. Die angeblich so wilden Hunnen lebten mit den lokalen Bauern friedlich zusammen, sie waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden. MUSIK Erzähler Ein Jahrhundert nach den Hunnen tauchen wieder Reiternomaden in Europa auf – das Turkvolk der Awaren. Ihre ethnischen Wurzeln sind unklar, fest steht nur: Auch sie kamen aus der Mongolei. In den Steppen Asiens war der Name „Awaren“ damals weit verbreitet. Gleich mehrere nomadische Gruppen nannten sich so. Erzählerin Als Mitte des sechsten Jahrhunderts in der Mongolei das Steppenreich der Róurán zerfiel, machte sich einer dieser Stammesverbände auf den Weg nach Westen. An die 20.000 Awaren-Krieger mit ihren Familien zogen in kleineren Gruppen nach Europa und siedelten zunächst an der unteren Donau. Im Jahr 568 nahmen sie das Karpatenbecken in Besitz. Erzähler Ihr Reich sollte 250 Jahre bestehen. Zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung erstreckte es sich vom heutigen Niederösterreich bis weit nach Rumänien hinein. Dort hatten die Awaren ihre Verwaltungs- und Machtzentren. Aber sie blieben weiterhin mobil, sagt Arnold Muhl. ZSP 11 Muhl mobil 0,16 Man weiß zum Beispiel von den Awaren, dass sie auch ihre Kontakte bis weit bis 3000 oder 4000 Kilometer in die Steppe zurückhalten. Also da gibt es Heiratsverbindungen, das heißt, die bleiben nicht hier, sondern das ist wie die Seidenstraße auf und ab. Man kommuniziert miteinander. Und das wissen wir übrigens durch die genetischen Untersuchungen. MUSIK Erzähler Die Krieger der awarischen Oberschicht zeigten sich traditionsbewusst. Selbst wenn sie schon sesshafter geworden waren, verstanden sie sich weiter als Nomaden, die ihre Tracht und Umgangsformen bewahrten. In der Ausstellung von Halle stand gleich am Eingang die Rekonstruktion eines höchst eindrucksvollen Awarenreiters auf seinem Pferd. Erzählerin Stolz und wild entschlossen dreinblickend, mit langen, geflochtenen Haaren und zotteligem Vollbart, in seiner Rechten eine Lanze, so als wolle er den kostbaren Goldschatz in der Vorhalle des Museums verteidigen. Dieser awarische Panzerreiter, sagt Kurator Muhl, verkörpert auf perfekte Weise den Steppenkrieger des Frühmittelalters. ZSP 12 Muhl awarischer Reiter 0,13 Man sieht an ihm alles, was ein Reiternomade braucht. Seinen Bogen, sein Schwert, seine Lanze, ein sehr fittes Pferd, einen Sattel. Und als Aware natürlich Steigbügel. Damit hat er alles, was er braucht. Erzählerin Und was dem Gegner Angst einjagt. Kein Heer, nicht einmal das byzantinische, war damals in der Lage, sich diesen Panzerreitern erfolgreich zu widersetzen. Was auch an der Rüstung der Awaren lag. ZSP 13 Muhl Lamellen 0,12 Das sind Lamellen aus Eisen, kleine Lamellen, die man zu einem ganz beweglichen Panzer zusammengeschnürt hat und die viel besser gegen Pfeile helfen als Kettenhemden. Damit war man doch relativ gut geschützt. Erzähler Als Angriffswaffe diente den Awaren der sogenannte Kompositbogen. Zusammengesetzt aus einem Holzteil, das auf der Innenseite mit Sehnen zusammengeleimt und auf der Rückseite mit einem dünnen Horn verstärkt ist, entwickelt er eine hohe Durchschlagskraft. Der untere Bogenteil ist kürzer als der obere. Dadurch werden die awarischen Kämpfer zu Pferd beweglicher. Erzählerin Sie überraschen den Feind mit blitzschnellen Attacken, schießen reitend ihre Pfeile ab und fechten mit gekrümmten Säbeln. Entscheidend für diese Art des Kämpfens ist ein kleines Utensil, das dem Reiter Halt gibt: der eiserne Steigbügel. Erst die Awaren haben diese revolutionäre Erfindung nach Europa gebracht, sagt Arnold Muhl. ZSP 14 Muhl Steigbügel 0,20 Das ist eine tatsächlich entscheidende Änderung, weil das verändert das Reiten völlig. Vorher gab es diesen Steigbügel nicht. Heute erscheint uns das völlig selbstverständlich. Aber wenn man bedenkt: Römer, Griechen, die hatten keinen. Und erst mit dem Steigbügel ist ein Reiten, wie man es dann später bei der Kavallerie oder beim Rittertum sieht, erst möglich. Erzähler Panzerrüstung, Steigbügel, Säbel – das Erbe der Steppe besteht vor allem aus militärischen Neuerungen, die die Armeen des Westens später übernommen haben. Ohne die Awaren wäre also das europäische Rittertum des Mittelalters gar nicht denkbar. MUSIK Erzähler Die Schätze der Awaren sind fast sprichwörtlich. Das meiste Gold aber haben sie nicht durch Kampf und Raub eingeheimst, sondern durch Schutzzahlungen und diplomatische Geschenke. Denn die Awaren waren in Europa schnell zum politischen Player aufgestiegen, zu einem Faktor im Machtgefüge. Erzählerin 566 hatten sie die Franken besiegt und im Jahr darauf die ostgermanischen Gepiden in Pannonien unterworfen. Um ihren Machtbereich auch auf dem Balkan zu erweitern, wandten sich die Awaren schließlich gegen Byzanz und belagerten im Jahr 626 die schwer befestigte Hauptstadt Konstantinopel. An deren Mauern aber bissen sich die awarischen Panzerreiter und Bogenschützen letztlich die Zähne aus, sagt Arnold Muhl. ZSP 15 Muhl Verlust 0,23 Also die holen sich da eine ziemlich blutige Nase, sind dann ziemlich geschwächt. Auch Teile ihrer unterworfenen Slawen lösen sich dann auf, ein Teil ihrer Macht geht flöten. Und die Franken nutzen die Situation und greifen die ein paar Mal an. Das führt zu einem gewissen Substanzverlust letztendlich. Aber erst tatsächlich, als sie untereinander zerstritten sind, sind die dann so schwach, dass sie dann einzeln aufgerieben werden. Erzähler Ende des 8. Jahrhunderts erobert und plündert Frankenkönig Karl, der spätere Kaiser Karl der Große, das wohlhabende Awarenreich im Donau-Theiß-Zwischenstromland. Nur zwei Jahrzehnte später sind die Awaren aus den Annalen verschwunden. Ihr 250 Jahre währendes Reich ist Geschichte. Und die Reste der awarischen Bevölkerung gehen in anderen Volksgruppen auf. MUSIK Erzähler Aber es dauert keine hundert Jahre, da tauchen aus den Steppen Asiens erneut Reitervölker auf. Die Ungarn oder Magyaren, wie sie sich selbst nennen. Ihre Urheimat lag östlich des Urals, und ihr Idiom, das zur finno-ugrischen Sprachenfamilie gehört, klang in europäischen Ohren reichlich fremd. Auch sie lassen sich in der pannonischen Tiefebene nieder. Und starten von hier aus ihre Raubzüge. Erzählerin Wie ein Wirbelsturm fegen die Ungarn Ende des 9. Jahrhunderts über Mitteleuropa hinweg. Leicht gerüstet und äußerst wendig, führen sie blitzschnelle Reiterattacken aus. Die schwerfälligen gepanzerten Fußsoldaten des bayerischen Heeres erleiden im Jahr 907 vor Pressburg eine vernichtende Niederlage gegen diese pfeilschnellen Madjaren. Die werden zur permanenten Bedrohung. Sie zerstören Dörfer und plündern Klöster. In ihre Pfeilspitzen bohren sie Löcher. Dadurch entsteht im Flug ein heulendes, pfeifendes Geräusch, das die Gegner in Angst und Schrecken versetzt. Erzählerin Die ostfränkische Landbevölkerung verschanzt sich hinter hohen Erdwällen und tiefen Gräben. Oft genug vergeblich. Wie schon die Hunnen ein halbes Jahrtausend zuvor werden auch die magyarischen Reiternomaden zum Alptraum Europas. Als blutsaufende Bestien verschrien, galten sie als Vorboten einer drohenden Apokalypse. Die schriftkundigen Mönche sahen in den schamanistischen Heiden den personifizierten Satan. Aber waren diese Ungarn wirklich so grausam wie sie beschrieben werden? ZSP 16 Muhl erfolgreich 0,22 Nicht grausamer als die anderen. Das hat sich damals nicht viel gegeben. Ein Menschenleben zählte nicht so besonders viel. Aber sie waren halt erfolgreich wieder durch ihre Reiterei, auch mit ihren Säbeln waren sie ein bisschen besser ausgerüstet. Also das war für die Leute kein Spiel, wenn die hier anrückten. Weil auch die wieder militärisch so erfolgreich waren, dass man dem wenig entgegenzusetzen hatte. Erzählerin Mitte des 10. Jahrhunderts enden die Ungarneinfälle. König Otto I. kann 955 auf dem Lechfeld vor den Toren Augsburgs das militärisch weit überlegene ungarische Heer vernichtend schlagen. In den Jahrzehnten danach wird das Nomadenvolk langsam sesshaft. Und gut katholisch. Fürst Stephan christianisiert seine heidnischen Magyaren und gründet im Jahr 1000 das Königreich Ungarn. Als einziges der bedeutenden Steppenvölker können sich diese Ungarn in Mitteleuropa bis heute behaupten. MUSIK Erzähler Aber schon Mitte des 13. Jahrhunderts tauchten erneut Reiternomaden auf. Die mongolischen Stämme der Goldenen Horde unter Batu Khan dringen bis Niederschlesien, Ungarn, Mähren und Niederösterreich vor. Erzählerin Hunnen, Awaren, Ungarn, Mongolen. Die Geschichte der Reiternomaden auf dem europäischen Kontinent ist lang, auch wenn manche ihrer Reiche nur kurz bestanden. Als Krieger, aber auch als Hirten und Händler haben die eurasischen Steppenvölker Spuren hinterlassen. Sie sind Teil unserer europäischen Geschichte.…
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1 STEINZEIT UND DANACH - Das Rätsel der „Glockenbecherleute“ 22:09
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22:09Vor rund 4500 Jahren scheint sich in Europa eine Religion zu entwickeln: Die Steinzeitleute begannen, ihre Toten anders zu bestatten und ihnen glockenförmige Keramikbecher ins Grab legten. Wer waren diese Leute, die man als Glockenbecherkultur zusammenfasst? Von Matthias Hennies (BR 2024) Credits Autor: Matthias Hennies Regie: Martin Trauner Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Constanze Fennel Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Elisabeth Reuter, Prof. Philipp Stockhammer, Dr. Wolfgang Haak, Dr. Guido Brandt, Prof. Harald Meller Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Trauer der Frühmenschen – Kein Totenbett aus Blüten Nur Menschen begraben ihre Toten, doch wann haben sie damit angefangen? Anfangs wollten die Steinzeitmenschen vielleicht Aasjäger fernhalten, später den Weg ins Jenseits bereiten. JETZT ANHÖREN SWR (2024): Migration in der Steinzeit – Warum wir fast alle anatolische Wurzeln haben Egal, für wie "deutsch" wir uns halten; im Erbgut der meisten Europäer stecken Spuren von drei frühen Einwanderungswellen - aus Afrika, aus Anatolien und aus der russisch-ukrainischen Steppe. Diesen Migranten verdanken wir Landwirtschaft und Viehhaltung - und die indoeuropäische Sprache. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO (Werkstatt) Sprecher Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton. Trennt ein Stück ab und formt ein Gefäß. 1. O-Ton Reuter 13:20 (Geräusche) Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden Händen gleichzeitig - Sprecher Sie töpfert einen Becher, der in der Jungsteinzeit, im 3. Jahrtausend vor Christus, in ganz Europa verbreitet war. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der sich Tongeschirr viel schneller produzieren lässt. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist Spezialistin für Gefäße aus frühen Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes Schälchen, Basis für einen „Glockenbecher“, der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, größer wird. 2. O-Ton Reuter 17:45 Und damit das Gefäß breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drücke es auch noch nach außen. Wir brauchen die Glockenform. MUSIK Sprecher Der „Glockenbecher“ ist ein gutes, gründlich erforschtes Beispiel für eine große Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In einer Epoche, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in großen, gut organisierten Staaten, nicht in dicht bevölkerten Städten lebten: Haben Einwanderer in jenen Zeiten neues Gedankengut eingeführt? Oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende oder Händler, als Ideen-Transfer? ATMO (Schaben) 3. O-Ton Reuter 45:59 Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glätten und oben auseinanderzuziehen- Sprecher Das Gefäß erinnert an eine Glocke, die auf dem Kopf steht: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der sich wieder zu einer weiten Mündung öffnet. Es war mit regelmäßigen Linien und Mustern verziert. Die Töpferin demonstriert, wie man sie herstellt: Sie legt behutsam eine Schnur um das weiche, ungebrannte Gefäß. 4. O-Ton Reuter 53:08 Das sind so Kordeln, gedrehte, die kann ich in den Ton eindrücken, muss ich mit gutem Augenmaß arbeiten, ich habe jetzt eine Linie rund um mein Gefäß eingedrückt, das sieht man als leichte schräge Spuren in dieser Linie. MUSIK Sprecher Linie wird unter Linie gesetzt, danach ist der Becher fertig zum Brennen. Etwa acht Stunden später kommt ein fein verziertes, stabiles Gefäß aus dem Feuer. Wozu mag man es im dritten Jahrtausend vor Christus verwendet haben? 4 ½. O-Ton Stockhammer 2’20 neu Wir wüssten natürlich sehr gern, was es mit denen auf sich hat, gerade mit dieser einheitlichen Form: Es gibt Nahrungsrückstands-Analysen an einigen wenigen dieser Becher, in denen man „Mädesüß“ gefunden hat. Ein mir vorher auch unbekanntes Kraut, aus dem man eine alkoholische Substanz ziehen konnte, vielleicht war der Glockenbecher einfach ein spezifisches Gefäß zum Konsum alkoholischer Getränke, so wie wir in Bayern einen Maßkrug haben. Sprecher Für die Archäologie ist etwas Anderes wichtiger, stellt Philipp Stockhammer klar, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Dass Glockenbecher gegen Ende der Jungsteinzeit massenhaft als repräsentative Grabbeigaben dienten. Unzählige Exemplare haben sich bis heute erhalten, quer durch Europa, und die Gräber hatten – mit kleinen Abweichungen – immer dieselbe Ausstattung, immer dieselben Beigaben. 5. O-Ton Stockhammer 1‘37 In Mitteleuropa würde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/Süd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den Männern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trägt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schießt, nicht den Unterarm verletzt. MUSIK Sprecher Viel weiß man nicht über die Gemeinschaften, die diese Bestattungssitte praktizierten. Die Krieger kämpften offensichtlich mit Pfeil und Bogen, sie nutzten vermutlich schon Pferde als Reittiere. Lebensgrundlage war die Landwirtschaft, die Menschen bearbeiteten Äcker und züchteten Vieh. Siedlungen sind in Mitteleuropa bisher nur selten zu Tage gekommen. Die auf dem gesamten Kontinent verbreiteten, einheitlichen Gräber deuten aber auf ein weit gespanntes Kommunikationsnetzwerk hin, das Bevölkerungsgruppen über große Entfernungen verband. Zugleich lassen sie auf eine ziemlich egalitäre Sozialstruktur schließen, doch mancherorts gab es auch eine wohlhabendere Schicht. 5 ½. O-Ton Stockhammer 4:55 neu Es gibt Gräber auch in Süddeutschland, mit Gold, mit Bernstein – und wir haben auch ein Grab in Süddeutschland, das mit spanischem Silber ausgestattet ist, also Objekte, die klar zeigen, ja, es gab Menschen, die in diesem Netzwerk offensichtlich eine herausragende Position innehatten und denen es möglich war, über dieses Netzwerk aus fremden Regionen Objekte und natürlich auch Wissen zu beziehen. Sprecher Entscheidend für die Entwicklung der „Glockenbecher-Kulturen“ war der Einfluss von Steppenhirten, die aus Osteuropa kamen. 6. O-Ton Stockhammer 6:01 Im frühen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem Männer waren. Es ist sehr spannend – wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der männlichen Linie weitergegeben – dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die männlichen lokalen Linien alle enden. MUSIK Sprecher Friedlich kann es wohl kaum abgegangen sein. Archäologische Belege dafür sind allerdings noch nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-Gräbern lässt sich nur nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropäischen Bauernbevölkerung vermischten. MUSIK aus 7. O-Ton Stockhammer 7:22 Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-Phänomen ist quasi eine kulturelle Bewältigung dieser Einwanderer aus dem Osten. Sprecher Mit der Expansion der Männer aus der Steppe verbreiteten sich die Glockenbecher-Kulturen rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren Tongefäße mit ins Grab. Offen war bisher jedoch, ob allein die Migranten aus dem Osten die neue Sitte weitergetragen haben oder ob sie auch unabhängig von den Steppenhirten praktiziert wurde. Ein internationales Forscherteam hat nun Knochen und Zähne von 400 Menschen aus Glockenbecher-Gräbern auf Erbgut der Steppenhirten untersucht, in einer der bisher umfangreichsten Untersuchungen prähistorischer DNA. Archäologen aus ganz Europa holten dafür Skelettreste aus früheren Ausgrabungen aus den Magazinen. 8. O-Ton Haak 8:23 Wir sprechen von Proben aus Portugal, Spanien, Frankreich, den britischen Inseln, dann über Benelux und Mitteleuropa bis hin nach Tschechien, Italien und Ungarn hinein. Sprecher Das Projekt eröffnete neue Einblicke in die Veränderungen im Genom der Europäer und illustriert zugleich die großen Fortschritte der Genforschung, erläutert Dr. Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, der als Genetiker daran mitgearbeitet hat. 8 ½. O-Ton Haak Ich komme ja noch aus einer Generation, wo man das ganz mühselig aus diesen alten Knochenfunden herausarbeiten musste, das waren ganz langwierige Prozesse, und man hat da mit großem Aufwand ganz wenig Informationen herausbekommen, also nur noch wenige Bruchstücke aus dem Genom, die man dann zusammengestückelt hat, und damals hat man noch alles allein gemacht, man hat alles von A-Z, der Probennahme bis letztlich zur Publikation machen können, das ist heute nicht mehr der Fall. Sprecher In den großen Projekten der Paläogenetik arbeiten jetzt Spezialisten in Dutzenden Labors von Harvard über Kopenhagen bis Jena zusammen. Das ist möglich – und oft auch nötig –, weil Millionen von Erbgut-Proben nun parallel, in Massen-Analysen, untersucht werden können. 9. O-Ton Haak 4:09 Da musste man auch sich auf den Hosenboden setzen, schön Hausaufgaben machen, das war ne steile Lernkurve für uns alle, das hat natürlich die gesamte Molekulargenetik betroffen, also nicht nur die alte DNA, sondern die Biologie insgesamt, und da ist es egal, was man sequenziert, ob das jetzt die Hefe ist oder der Löwe aus dem Zoo oder eben prähistorische Menschen, wir sind jetzt in der Lage, mit höchster Auflösung die Dinge anzugehen. MUSIK & ATMO (Labor) Sprecher Ein Roboter fährt auf einer Laborbank des Jenaer Forschungsinstituts hin und her. Er pipettiert minimale Mengen Erbgut und Chemikalien in winzige Kanäle in einem blauen Kunststoffklotz. Damit beginnt das erste der drei entscheidenden neuen Verfahren: die „Library Preparation“, der Aufbau einer DNA-Bibliothek. Laborleiter Dr. Guido Brandt erläutert die Hintergründe. 10. O-Ton Brandt 3:38 Ich habe ein DNA-Fragment aus einer Probe und damit ich dieses DNA-Fragment analysieren kann, muss ich es manipulieren. Und das machen wir, indem wir an die beiden Enden dieses DNA-Fragments bekannte DNA-Sequenzen herankleben. Das sind selbst designte Sequenz-Schnipsel, die Sie bei Firmen in Auftrag geben und die synthetisieren synthetische DNA. In diesen „Adaptern“, wie wir sie nennen, sind bestimmte Bereiche enthalten, die dafür verantwortlich sind, dass ich die DNA vervielfältigen kann, dass ich sie später aber auch von Fragmenten einer anderen Probe unterscheiden kann. Man muss sich das so vorstellen wie einen Barcode, wie an der Supermarktkasse einen Strichcode. Sprecher Dank dieses “Strichcodes” sind die Proben aus dem Erbgut eines Menschen identifizierbar – und können im nächsten Arbeitsschritt zusammen mit der DNA mehrerer hundert anderer Individuen sequenziert werden. Die „Massive Parallele Sequenzierung“, der zweite große Fortschritt, beruht einer dramatischen Verbesserung der Sequenziermaschinen. 11. O-Ton Brandt 7:30 Die Technik von vor 15 Jahren, die wurde letzten Ende verwendet, um das erste humane Genom zu erzeugen, man hat da zwei Jahrzehnte dran gearbeitet und es hat Millionen von Dollar verschlungen, heute ist es möglich, ein humanes Genom für unter 1000 Dollar in 24 Stunden zu erzeugen. Der große Vorteil ist einfach diese massive parallele Sequenzierung, die es mir erlaubt, viele hundert Individuen auf einmal zu bearbeiten und eben Millionen von DNA-Sequenzen in einem Sequenzierlauf zu erzeugen. Sprecher Früher mussten Forscher für die Sequenzierung einen Abschnitt aus einer DNA-Probe auswählen. Dass beim „Next Generation Sequencing“, wie es auch genannt wird, nun Millionen DNA-Sequenzen gleichzeitig bearbeitet werden, vereinfacht insbesondere die Erforschung Alten Erbguts: Nun fällt eine solche Fülle von Daten an, dass es keine Bedeutung mehr hat, wenn einige DNA-Sequenzen nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr intakt sind. Die Paläogenetik erlebt daher einen mächtigen Boom. MUSIK Sprecher Die neue Technik wäre nicht komplett ohne den Entwicklungssprung in der Bioinformatik. Um die gigantischen Datenmengen aus der Parallelen Sequenzierung auswerten zu können, mussten neue Computerprogramme geschrieben und leistungsstarke Rechner angeschafft werden. 12. O-Ton Brandt 22:18 (O-Ton vorn gekürzt!) Durch das Library Prep werden einfach alle Moleküle, die in meiner Probe drin sind, in eine Library transferiert und damit ist es möglich, alle sofort zu sequenzieren. Und später dann eben am Computer der richtigen Position im Genom zuzuordnen. Es wird dann über bestimmte bio-informatische Algorithmen errechnet, wo ein Sequenzschnipsel im Genom am besten hinpasst. MUSIK Sprecher Den Wissenschaftlern eröffnen sich damit neue Erkenntnis-Möglichkeiten: Statt vor der Analyse auf gut‘ Glück einen DNA-Abschnitt auszuwählen, können sie jetzt das komplette Erbgut mehrerer Individuen rekonstruieren und danach entscheiden, wo die vielversprechenden Abschnitte liegen: Die Y-Chromosomen für die männlichen Linien etwa, die mitochondriale DNA für die Vererbung auf mütterliche Seite oder Mutationen im Erbgut, wenn es um die Charakterisierung von Bevölkerungsgruppen geht. Sprecher Im Glockenbecher-Projekt fanden die Genetiker das Erbgut der Steppenhirten in fast allen Skelettresten aus Mittel- und Westeuropa. Nur in den ältesten Proben, die auf etwa 2800 vor Christus datiert werden und aus Spanien stammen, ließ sich keine DNA der Einwanderer feststellen. Für den Archäologen Stockhammer ergibt sich daraus eine klare Schlussfolgerung: Glockenbecher waren auf der iberischen Halbinsel schon vor Ankunft der Einwanderer bekannt. Die neue Bestattungssitte hat sich also nicht nur durch Migration in Europa verbreitet, sondern ist unter iberischen Bevölkerungsgruppen schon vorher weitergetragen worden: als Ideentransfer, sozusagen von Mund zu Mund. 13. O-Ton Stockhammer 11:11& 23:17 Der Impetus kam durch Einwanderer, aber das Glockenbecher-Phänomen an sich ist dann nicht durch großräumige Wanderungen entstanden, sondern durch Kontakt zwischen den Beteiligten. Es war sicher das erste großräumige Phänomen, von dem man zeigen konnte, dass es nicht vor allem durch Migration entstanden ist. Sprecher Ausnahme: Die britischen Inseln, die die Einwanderer ab Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus eroberten. Sie löschten die Einheimischen, deren Vorfahren einst Stonehenge erbaut hatten, fast vollständig aus. Und sie brachten die Glockenbecher mit: Auf den britischen Inseln verlaufen Einwanderung und Verbreitung von Glockenbechern eindeutig parallel. Insgesamt gesehen, liefert die Studie neuen Stoff für einen alten Streit. Lange meinten Altertumswissenschaftler, wo einheitliche Fundensembles zu Tage kamen, hätte auch eine einheitliche Menschengruppe gelebt. So sprach man von einem „Glockenbecher-Volk“. Oder man meinte, überall, wo eiserne Bratspieße und so genannte „Antennendolche“ ausgegraben wurden, hätten Kelten gewohnt. In den sechziger Jahren kamen Zweifel auf: Kann man tatsächlich aus ähnlichen Objekten schließen, dass ein Volk sie hervorgebracht hat, mit einer übereinstimmenden Signatur des Erbguts? Die Glockenbecher-Untersuchung spricht dagegen. 14. O-Ton Stockhammer 7‘57 Wir haben ja die Gräber der Einwanderer, bevor sie nach Mitteleuropa kamen. Die hatten eben auch Becher, aber die waren keine Glockenbecher, die waren eben ein bisschen anders, die waren schnurverziert. Die hatten keine Kupferdolche, die hatten Steinäxte, die hatten auch Hockerbestattungen, aber nicht Nord-Süd, sondern Ost-West. Und das Spannende ist, das Glockenbecher-Phänomen dreht quasi alle kulturellen Aspekte dieser Steppenhirten in ihr Gegenteil, aber es bleibt ein Dialog, wie eine Dialektik, zwischen dem, was da aus dem Osten in den Westen gekommen ist und dem, was vorher schon im Westen da war. Sprecher Die Glockenbecher-Sitte und die Kultur der Einwanderer gehen nicht auf denselben Ursprung zurück, betont Stockhammer, haben sich im Umbruch der massiven, blutigen Einwanderungswelle aber gegenseitig beeinflusst. Doch die alte Streitfrage ist noch nicht entschieden. Gerade am entscheidenden Resultat der Studie, das den Ideentransfer belegen soll, hat der Genetiker Wolfgang Haak Zweifel. Er hebt hervor: Die Verbreitung von Glockenbechern fällt räumlich und zeitlich zum allergrößten Teil mit der massiven Expansion der Steppenhirten zusammen. Nur die ältesten, auf 2800 vor Christus datierten Glockenbecher aus Spanien passen nicht ins Bild. 15. O-Ton Haak 18:28 (vorn gekürzt!) Das sind nur diese ersten 300 Jahre, wo das nicht zusammengeht, dann später geht es wirklich 1:1 zusammen, was wir im Rest des Genoms sehen und auch die archäologische Sachkultur, das geht Hand in Hand. MUSIK Sprecher Ist die Datierung der spanischen Funde wirklich zuverlässig? Die Jahreszahl 2800 vor Christus wurde nicht aktuell im Rahmen der Studie ermittelt, sondern lag bereits aus der Ausgrabung vor. Und, so Haak weiter, lassen sich diese Gräber eindeutig der Glockenbecher-Kultur zuordnen? Der Genetiker, der in mehreren internationalen Großprojekten aktiv ist, will das europaweite Phänomen nun noch detaillierter erforschen: mit neuen archäologischen Daten und Erbgut-Analysen von mehreren tausend Individuen. Sprecher Weitere Untersuchungen bieten sich auch an, weil hinter der neuen Bestattungssitte mehr steht als nur eine andere Grabbeigabe: Die Menschen begannen eines Tages, ihren Toten Glockenbecher ins Grab zu legen, weil sie für sie eine konkrete Bedeutung hatten. Sie waren Ausdruck einer bestimmten Überzeugung, eines Glaubens. Welche Wünsche und Hoffnungen damit verbunden waren, lässt sich nicht rekonstruieren, doch es war eine neue Religion oder eine neue Ideologie. Und sie hatte erstaunlichen Erfolg, verbreitete sich von Ungarn bis Portugal, von Italien bis auf die britischen Inseln. Die Menschen standen trotz der Entfernung miteinander in Verbindung, sie bildeten ein Netzwerk, sagen die Forscher. 16. O-Ton Haak 25:30 Warum hat es immer wieder funktioniert? Da muss es ja ein kulturelles oder soziologisches Konzept gegeben haben, vielleicht auch eine Ideologie, die dann attraktiv war, das war möglicherweise einfach das Wirtschaftsmodell, das gezogen hat, das Gelobte Land, das neue Ding, es ging aufwärts, vorwärts, das ist ein Modell, das man mal prüfen müsste. Sprecher Dieses Netzwerk bereitete wahrscheinlich der Innovation den Boden, die eine neue Epoche einläutete: der Herstellung der Bronze, des ersten praktischen Metalls. Mancherorts in Europa hatten Menschen schon vorher Kupfer bearbeitet, aber kupferne Waffen und Werkzeuge sind relativ weich. Legiert man Kupfer jedoch mit etwas Zinn, wird das Material härter, lässt sich gut bearbeiten und glänzt obendrein wie Gold: Das sind die Vorzüge der Bronze. Bronze ist aber nicht leicht herzustellen, weil Zinnvorkommen in Europa rar sind: Größere Lagerstätten finden sich nur im äußersten Westen Englands, im heutigen Cornwall. Dort ließen sich Menschen der Glockenbecher-Kulturen ab 2450 vor Christus nieder. Viele Archäologen vermuten, dass sie die Kenntnis von der Zinnbronze über den Kontinent verteilten. Philipp Stockhammer: MUSIK 17. O-Ton Stockhammer 37:22 Gerade das Glockenbecher-Netzwerk war einer der entscheidenden Momente, Wissen auszutauschen: Oh, hier haben wir die Zinnlagerstätten, oh, hier haben wir Kupfer, oh, hier haben wir die neuen metallurgischen Techniken aus dem Orient. Und deshalb war das Glockenbecher-Phänomen eigentlich die entscheidende Triebfeder für die Herausbildung der Bronzezeit in Mitteleuropa, und ich sehe in meinen Forschungen, dass sich in Mitteleuropa eigentlich nur dort die frühe Bronzezeit entwickeln konnte, wo wir vorher auch das Glockenbecher-Phänomen fassen. ATMO (Besucher im Museum) Sprecher Etwa ab 2400 vor Christus entwickelte sich ein Zentrum der frühen Bronze-Herstellung im östlichen Mitteldeutschland. Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle kann eine Fülle einschlägiger archäologischer Funde präsentieren. 18. O-Ton Meller 5:38 Die frühesten Bronze-Objekte, die wir hier haben, kann ich Ihnen zeigen, das sind Dolche… ATMO (Schritte) Sprecher Professor Harald Meller, Museumsdirektor und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, ist an mehreren Forschungsprojekten zum Anfang der Bronzezeit in Europa beteiligt. Auch er zieht eine Verbindung zwischen der Glockenbecher-Kultur und der Metallverarbeitung. 19. O-Ton Meller 13:27 Die Fähigkeit, Bronze herzustellen, gibt es schon ganz alt im Vorderen Orient und am Balkan, aber bei uns in Mitteleuropa ist die Bronzeherstellung noch mal erfunden worden, zumindest ist das die Hypothese, durch die Eroberung von Südengland, Glockenbecherleute erobern Südengland, und die entdecken dann in Cornwall das Zusammentreffen von reichen Zinnquellen in den Flüssen und dieses Zinn ermöglicht es natürlich, Bronze herzustellen. ATMO (Schritte) Sprecher Vor einer Wand-hohen Vitrine, in der auf dunklem Stoff mehrere Reihen bronzener Beilklingen aufgehängt sind, eine wie die andere, wird deutlich, welche Revolution die Entdeckung dieses Materials bedeutete: Sie veränderte die Gesellschaft grundlegend. 20. O-Ton Meller 18:39 Der Bronzeguss ist für uns so wahnsinnig wichtig, weil damit die Menschen zum ersten Mal selbstgeschaffen identische Dinge herstellen. Vorher hast du ein Steinbeil, jedes Beil ist anders, abhängig von der Quelle. Das heißt, ein Fürst lässt 100, 200, 300 Beile gießen, und die sind völlig identisch, die kann er jetzt an die Bauernsöhne verleihen, kann er eine Armee aufstellen. MUSIK Sprecher Ab Ende des dritten Jahrtausends vor Christus herrschten erstmals mächtige Fürsten in einigen Gegenden Mitteleuropas. Aus den Glockenbecher-Kulturen, die kaum Hierarchien kannten, hatte sich eine neue Gesellschaftsstruktur gebildet. Meller spricht dabei übrigens von „Glockenbecherleuten“ – als ob sich die bauchigen Tongefäße doch mit einer genetisch einheitlichen Bevölkerung identifizieren ließen. Über die Frage, ob die Bestattungssitte mit Glockenbechern, die erfolgreiche neue Religion, von Einwanderern verbreitet wurde oder als Idee von Mund zu Mund wanderte, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.…
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1 STEINZEIT UND DANACH - „Ackern“ und Gewalt in der Jungsteinzeit 22:58
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22:58In der Jungsteinzeit, dem Neolithikum, haben die Menschen das Überlebensprinzip "Arbeit" erfunden. Bislang lebten Jäger und Sammler von der Hand in den Mund, doch die ersten Bauern und Viehzüchter mussten das Ackerland pflügen, Unmengen Unkraut jäten und Tiere hüten. Sie wurden Bauern, sesshaft, innovativ - und offenbar auch gewalttätiger, als sie es bis dahin waren. Von Matthias Hennies (BR 2019) Credits Autor: Matthias Hennies Regie: Martin Trauner Sprecher: Thomas Birnstiel Technik: Christian Schimmöller Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Martin Hinz, Dr. Helmut Schlichtherle, Manuela Fischer, Margarethe Schweikle, Prof. Thomas Saile, Dr. Heiner Schwarzberg Linktipps: ZDF (2019): Tatort Steinzeit Immer wieder stoßen Forscher auf die Spuren von Gewalt, die in diesem Ausmaß aus früheren Epochen unbekannt sind. Wer waren die Opfer und wer die Täter? JETZT ANSEHEN SWR (2018): Archäologie erleben – Akte Jungsteinzeit Wieso wurden vor 7.500 Jahren die Menschen im Südwesten sesshaft? Dank neuer wissenschaftlicher Methoden können Archäologen endlich Rätsel aus unserer Geschichte lösen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO (Gespräch & Knistern) Planen drüber! Ist das Timing, Baby? Eine Minute, dann geht’s los hier! Dann geht das richtig los. Blende, unterlegen. Sprecher Dunkle Wolken ziehen auf, der Wind schüttelt die Kronen der alten Buchen und die Archäologen legen die Schaufeln beiseite. Wenige Kilometer von der Ostseeküste entfernt, in einem Wald bei Wangels in Holstein, untersuchen sie ein Großsteingrab aus der Jungsteinzeit. Rund um die riesigen Findlinge, die den Bestattungsplatz der frühen Bauern markieren, tragen sie Zentimeter für Zentimeter die Erde ab. Doch nun droht der nächste Regenguss und sie müssen die Ausgrabung mit einer dicken Plane zudecken. ATMO (Gespräche & Knistern) Muss da noch höher, das regnet sonst rein! MUSIK Sprecher Nach dem Schauer tupfen die Forscher, großenteils Studenten von der Universität Kiel, mit Schwämmen das Regenwasser aus der Grabungsfläche. In einem großen Forschungsprojekt zum Neolithikum, der Epoche der ersten Bauern, suchen sie nach einer Erklärung für den Boom der Megalithbauten: In Norddeutschland haben sich ab 4000 vor Christus die Ackerbauern und Viehzüchter durchgesetzt. Nur wenige Menschen zogen noch als Jäger und Sammler umher, die meisten hatten sich an einem festen Ort niedergelassen, ernteten Getreide und Hülsenfrüchte, züchteten Rinder, Pferde und Schweine. Um 3600 vor Christus begannen die Bauern dann, für ihre Toten mächtige Grabhügel aus schweren Steinbrocken aufzutürmen. Aber warum? Das muss die Archäologie noch klären. Am Grab bei Wangels allerdings ist es im Augenblick zu nass zum Ausgraben. ATMO (Gespräche & Plätschern) Hier kannst du noch näher an die Steine ran, oh ja. Sprecher Ihre geräumigen Langhäuser bauten die frühen Bauern aus Holz und Lehm, berichtet Martin Hinz, der Grabungsleiter, doch die Gräber errichteten sie aus Stein. Darin zeigt sich, welche Bedeutung sie ihren Vorfahren zumaßen: Die steinernen Wohnstätten der Toten waren dauerhaft, die hölzernen Bauten für die Lebenden aber vergänglich. Die Leute wussten genau, wie man mit Stein baut: Die Lücken zwischen den mächtigen, unförmigen Findlingen haben sie sorgsam mit Trockenmauerwerk gefüllt, so dass geschlossene Wände entstanden. Der Eingang blieb offen, denn die Bauten wurden in der Regel mehrere Generationen lang genutzt. Im Volksmund Norddeutschlands heißen sie wegen ihrer Größe "Hünengräber", doch die Forschung hat gezeigt: 2. O-Ton Hinz XIV 099-033, 31'23 Dass hier kein ausgewählter Personenkreis bestattet worden ist. Wir haben Kinder, Frauen, Männer, daher ist anzunehmen, dass es wirklich ein Bestattungsort war für jedermann, keine expliziten Häuptlingsgräber, wie man das früher immer noch gedacht hat. Sprecher Um aus tonnenschweren Findlingen einen Grabbau zu errichten, mussten alle Bewohner eines Dorfes anpacken – und später setzten alle ihre Toten darin bei. Niemand stach aus der Gemeinschaft heraus: Weder im Tod durch ein Einzelgrab oder kostbare Beigaben, noch im Leben durch ein riesiges Haus oder prunkvollen Besitz. Die frühen Bauern lebten einige Jahrhunderte lang in einer weitgehend egalitären Gesellschaft. Mit den gemeinschaftlich errichteten Grabbauten dokumentierten sie ihre Zusammengehörigkeit. Zugleich markierten sie damit ihren Grund und Boden, erklärt Dr. Hinz: 3. O-Ton Hinz XIV 099-033, 35'52 Das ist sicher nicht losgelöst davon, dass Land jetzt eine ganz andere Qualität bekommt, es wird eine Ressource, man investiert in das Land, man muss den Acker roden, man muss Arbeit hinein investieren und da kommt sicher auch ein anderes Bewusstsein auf für Landschaft. Sprecher Die mobilen Jäger- und Sammler-Gruppen waren immer dorthin gezogen, wo die Natur ihnen gerade die besten Ressourcen bot. Die Bauern aber siedelten sich an einem Ort an und entwickelten eine engere Beziehung zum Land, ihrer Lebengrundlage: Sie nahmen es dauerhaft in Besitz, deshalb errichteten sie ihre steinernen Gemeinschaftsgräber darauf. Die Bauten demonstrieren das neue Bewusstsein für Dauer und Besitz, das sich in der Jungsteinzeit entwickelte. In Süddeutschland dagegen, da, wo die Gletscher der Eiszeit keine Findlinge abgelagert haben, entwickelten die Menschen des Neolithikums andere Bräuche, um ihre Ahnen zu ehren und sich ihrer Zusammengehörigkeit zu vergewissern. Dort ließen sich die ersten Bauern um 5500 vor Christus nieder, etwa ab 3800 entstanden Pfahlbauten an den Seeufern des Voralpenlandes. Die Pfahlbauten bieten den Archäologen die besten Forschungsmöglichkeiten, weil Holz und Lehm, Textilien und Pflanzenreste im feuchten Boden, abgeschlossen vom Sauerstoff, Jahrtausende überdauern können. ATMO (Schritte) Sprecher Zentrum der Pfahlbau-Forschung ist das Amt für Denkmalpflege in Hemmenhofen am Bodensee, Dr. Helmut Schlichtherle hat es lange geleitet. Er kann ein einzigartiges Beispiel für den jungsteinzeitlichen Ahnenkult zeigen, das kürzlich aufwändig rekonstruiert wurde. In Ludwigshafen am Bodensee, ausgerechnet im Strandbad, waren Bruchstücke von der lehmverputzten Wand eines neolithischen Hauses zutage gekommen – einer Wand, die großflächig mit Malereien bedeckt war. 5. O-Ton Schlichtherle OT 12, 9'02 Die Badegäste standen mehrere Sommer schon in diesen Malereifragmenten, die durch die Wellen freigelegt worden sind und wir waren dann mit unseren Tauchern dort und haben vor allem das geborgen, was im Seegrund noch zugedeckt war- Sprecher Ergebnis war ein Puzzle von weit über 1.000 Teilen, das dann in die Labors der Denkmalpflege wanderte. Dort hat Schlichtherle die Lehmbruchstücke mit seinen Mitarbeiterinnen Margarethe Schweikle und Manuela Fischer in mühsamer Kleinarbeit nach und nach zusammengesetzt. 6. O-Ton Schweikle OT 12, 11'16 Das lag dann hier jahrelang rum, oder? Gelächter. Schon ein paar Jahre. Und ich hab quasi dann die Einzelscherben rausgeholt und dann geklebt, das kann man jetzt auch in die Hand nehmen, hier dran sieht man die Schultern und das Händchen, also das ist ein ganz wichtiges Stück- O-Ton Fischer OT 12 Hier hinter Ihnen in diesem Regal sind, ich weiß nicht, wie viele Kisten, über hundert, da liegen immer noch sehr viele Stücke drin. Die wo wir zuordnen konnten, das sind diese bemalten Hüttenlehmstücke, haben wir den Frauen zugeordnet, aber ansonsten gibt es in diesem Chaos noch sehr viele Stücke, die teils keine Bemalung haben, einfach nur aus der Wand rausgebrochen sind, ohne Hinweis, die können wir gar nicht zuordnen, das liegt alles noch in diesen Kisten. Sprecher Das mehrere Meter lange Fresko zeigt sieben fast lebensgroße, stilisierte Frauengestalten, mit weißer Farbe auf die braune Wand gemalt. Ihre Brüste stehen plastisch, aus Lehm geformt, aus der Wand hervor, ihre Arme dagegen sind nur angedeutet, die Beine gar nicht dargestellt. Bei vier Gestalten ist der Kopf wiedergegeben, mit einem auffälligen Kranz von Haaren oder Strahlen darum herum. Schlichtherle interessiert sich besonders für die abstrahierten Figuren zwischen den Frauengestalten: Strichmännchen mit ausgebreiteten Armen oder Beinen: Zu neun, zehn, elf übereinandergestapelt, ergeben sie ein Muster, das an einen Baum erinnert – einen Lebensbaum, nennt es der Archäologe. Er deutet die Abfolge von Strichmännchen als eine Ahnenreihe, die Generation um Generation in die Vergangenheit zurückführt. Den Schlüssel zu dieser Interpretation liefern ihm Verzierungen auf neolithischen Keramikgefäßen. 7. O-Ton Schlichtherle OT 12, 24'25 Auf diesen Gefäßen gibt es wieder diese Lebensbäume, in denen wir die Ahnenreihen sehen können. Gleichzeitig sehen wir, dass es hier sonnenartige Knubben und Ösen auf den Gefäßen gibt, die ganz stark erinnern an die sonnenartigen Köpfe der weiblichen Gestalten. Und in einem Fall ist auch klar, dass die weiblichen Gestalten mit ihren sonnenartigen Köpfen über den Ahnenreihen sitzen. Sprecher Die Ahnenreihen führen demnach zurück zu den großen Frauengestalten: Sie sind die weiblichen Urahnen der verschiedenen Sippen im Dorf. Nicht zu verwechseln mit der Muttergottheit oder Urmutter, die man lange in der Glaubenswelt der Steinzeitkulturen finden wollte. Die Wand spiegelt also vermutlich die Genealogie der Dorfgemeinschaft. Anhand der Malerei vergewisserte sich das Dorf seiner Identität. Diese Deutung deckt sich mit einer Erkenntnis der Ethnologie: Kulturen, die keine Schrift haben, definieren sich häufig durch detailliertes, sorgsam memoriertes Wissen über ihre Ahnenreihen. Dass der Ahnenkult in der geistigen Welt des Neolithikums eine zentrale Rolle spielte, weiß man seit langem. Doch nirgends ist bisher eine so subtile Ikonographie aufgetaucht wie auf der Kultwand von Ludwigshafen am Bodensee. Und sie scheint direkt aus dem Leben gegriffen: Kein spektakulärer Großbau, kein überregionales Kultzentrum, sondern ein alltäglicher Gegenstand, den es vermutlich in jedem Dorf gab - wie der Altar der Pfarrkirche, vor dem sich die Kinder zur Kommunion versammeln. 9. O-Ton Schlichtherle OT 13, 8'18 Ich könnte mir gut vorstellen, dass vor dieser Wand, in diesem Innenraum, Initiationsfeiern stattfanden, dass über diese Gestalten gesprochen wurde, dass die Mythen repliziert und immer wieder wiederholt wurden. Eine schriftlose Kultur lebt von der Wiederholung solcher Geschichten und auch diese Wand ist eine Verbildlichung von Inhalten, das ist der Überbau dieser Gesellschaft, der hier eine Bildform gekriegt hat. Sowas hat es sicher häufig gegeben, wir haben die einmalige Chance gehabt, es mal zu finden. Sprecher Nicht dass Schlichtherle Mangel an eindrucksvollen Funden hätte: Da ist auch das Modell der Steinzeit-Siedlung Torwiesen, die am Rand des Federsees in Oberschwaben nahezu komplett geborgen werden konnte. Als die Menschen den Ort um 3300 vor Christus verlassen hatten, wuchs Torf über die Häuser und Bohlenwege: Stützpfähle, Fußböden, auch eingestürzte Wände blieben erhalten – darüber hinaus die Reste der Pflanzen, die hier in der Jungsteinzeit verzehrt oder verarbeitet wurden, tote Insekten und zerrissene Fischernetze. 4. O-Ton Schlichtherle (Innen, Schritte) Ich mache mal die Tür zu, da sind oft Geräusche. (Klappert) Sprecher Helmut Schlichtherle hat das Dorf auf einer Sperrholzplatte im kleinen Maßstab nachbauen lassen: 15 Häuser, rechts und links eines soliden Bohlenweges aufgereiht, alle aus Holzstäbchen und Bastfäden, ein bisschen größer als die Gebäude einer Modelleisenbahn. Darunter liegt, grauschwarz angestrichen, das vertorfte Ufer aus Pappmaschee. Alle Häuser bis auf drei wirken gleich groß und stehen parallel nebeneinander, die Giebel zur zentralen Dorfstraße ausgerichtet. Vor jedem Eingang liegt ein Dreschplatz – doch der erste Eindruck täuscht: "Torwiesen" war kein egalitäres Dorf. 12. O-Ton Schlichtherle OT 9, 9'56 Wenn wir etwas genauer hingucken, sehen wir, dass die Häuser im Dorf von vorn nach hinten kleiner werden. Das erste Haus hier ist am längsten und gehen wir die Dorfstraße entlang bis zum letzten, dann ist das nur noch halb so groß. Sprecher Dasselbe Muster zeigte sich, als die Archäologen die Verteilung der Kleinfunde analysierten: Die ersten, größten Häuser waren gut mit Getreide und anderen Kulturpflanzen versorgt, in den letzten Häusern dagegen fanden sich nur wenige Dreschreste, dort brachte der Feldbau offensichtlich nur geringe Erträge. Und dann sind da noch drei winzige Häuser hinter und zwischen die geräumigen Bauten der Landwirte gequetscht: Die Grundfläche reichte gerade aus, dass sich zwei Personen abends auf dem Boden ausstrecken konnten. 14. O-Ton Schlichtherle OT 9, 17'12 Das könnte tatsächlich eine andere Schicht sein. Wir wissen, dass in den kleinen Häuschen spezielle Dinge gemacht worden sind: In diesen beiden saßen Bogenbauer, wir wissen, dass in zwei der kleinen Häuser Fischereigerät war, das ist auch eine Ausnahme in der Siedlung, und dann wissen wir, dass Sammeltätigkeit eine große Rolle spielt: Also nicht landwirtschaftliche Produkte, sondern in der Natur gesammelte Produkte und teilweise sogar Samen von Ackerunkräutern, die in großer Menge eingesammelt wurden. Also die Kleinhäusler hatten das Recht, auf den Feldern der Großbauern die Unkräuter einzusammeln und zu verwerten. Sprecher Das Ende der egalitären jungsteinzeitlichen Gesellschaft hatten Forscher bisher nur an neuen Bestattungssitten erkannt: Anstelle gemeinschaftlicher Grabstätten wie den Megalithbauten begannen die Menschen, Einzelgräber anzulegen, offenkundig für Anführer oder Häuptlinge. Jetzt aber zeigen die kleinteiligen Funde aus Torwiesen sehr anschaulich, wie sich im alltäglichen Leben der frühen Bauern eine hierarchische Schichtung der Dorfgemeinschaft herausbildete. ATMO (Zug) Sprecher Megalithgräber im Norden und Pfahlbauten im Süden haben Wissenschaftlern in den letzten Jahren neue Einblicke in die Welt der Jungsteinzeit eröffnet. In ganz Deutschland verbreitet, aber am rätselhaftesten sind die "Erdwerke" der Steinzeitleute. Sprecher Der Regionalexpress von München nach Regensburg verringert kurz hinter Landshut seine Geschwindigkeit. Er quert das Tal des Eichelbachs und rollt über einen Bahndamm gemächlich auf die scharfe Kurve Richtung Norden zu. Schaut man auf der rechten Seite aus dem Fenster, fällt der Blick auf ein Raps-, dahinter ein Getreidefeld: Hier im Landshuter Löss liegt das wohl berühmteste Erdwerk Bayerns. 15. O-Ton Saile 018-144, 8'46 Wenn man in dem Zug sitzt, kann man in dieses Tälchen schauen und wenn man das häufiger macht, auf der Strecke von Landshut nach Regensburg fährt, dann guckt man hier ab und an rein, das hat der Pollinger offenbar damals auch getan und hat dann eben in dem gepflügten Zustand viele dunkle Verfärbungen auf gelblichem oder hellerem Grund gesehen. Sprecher Vor hundert Jahren hat der Oberlehrer Johann Pollinger die dunklen Verfärbungen als ein System zusammenhängender Gräben identifiziert – weil er von oben darauf herunterblickte, so Thomas Saile, Archäologie-Professor aus Regensburg. Das war der Anfang der Luftbildarchäologie. Heute ist Geländeerkundung aus der Luft ein Standardverfahren: Wo Reste von Gebäuden in der Erde liegen oder wo einst Gräben verliefen, zeigt der Boden nach der Ernte oder beim ersten Schnee eine andere Farbe. Gräben zum Beispiel speichern Feuchtigkeit und Kälte länger, daher ist die Erde dunkler als der umgebende Boden. Von oben lässt sich erkennen, ob die Verfärbungen ein regelmäßiges Muster ergeben, ob also von Menschen geschaffene Anlagen in der Erde ruhen. Die Gräben beim Weiler Altheim wurden 1914 ausgegraben und als "Erdwerk" identifiziert Den Kern bildete eine rechteckige Grabenanlage von etwa 40 mal 60 Metern Seitenlänge, also gut ein halbes Fußballfeld groß. Angelegt wurde der Bau um 3600 vor Christus. Später zogen die Menschen außen noch zwei Gräben darum herum. Über schmale Erdbrücken konnten sie das Innere der Anlage betreten – doch was sich dort einst befand, weiß man nicht: Archäologen finden keine Spuren mehr, weil die oberen Erdschichten im Lauf der Zeit komplett erodiert sind. Nachweisbar ist nur, dass der Innenraum von einer Reihe Holzpfosten umschlossen war, die aber längst zerfallen sind. ATMO (Schritte & Auto) Sprecher Wie der Bau einmal ausgesehen haben könnte, zeigt im Museum Stadtresidenz in Landshut eine imposante, gut zwei Meter hohe Rekonstruktion. 17. O-Ton Saile 36-141, 0'41 Diese Palisade, die soll den Eindruck dieser Altheimer Anlage erwecken. Und wenn man jetzt hier durchgeht, durch den Eingang, dann gelangt man in den Saal, der sich nun mit Altheim beschäftigt. AMTO (Schritte) Sprecher Die Palisade zog sich entlang des Grabens um den Innenraum der Anlage. Lange wurde sie als Befestigung interpretiert, doch heute schließen Forscher eine militärische Funktion aus: Dann hätte man das Bauwerk auf einem Hügel errichtet und nicht an einem abfallenden Hang, wo es von oben beschossen werden konnte. Die beiden Durchgänge zum Innenraum waren auch keine Tore. Professor Saile hat kürzlich erneut in der Anlage gegraben und erkannt, dass die Durchgänge exakt in einer Linie angelegt worden sind, so dass man sie für astronomische Beobachtungen nutzen konnte: 18. O-Ton Saile 37-143, 26'10 Wenn Sie jetzt auf dieser Linie stehen und durch den nordwestlichen Ausgang der Anlage schauen, dann schauen Sie auf die Horizontlinie und an einem Punkt der Horizontlinie können Sie den Untergang des Mondes bei der nördlichsten Mondwende sehen. Sprecher Wie Erdwerke und Kreisgrabenbauten auch anderswo zeigen, wussten die Leute der Jungsteinzeit, dass der Mond – genau wie die Sonne - nicht immer an derselben Stelle des Horizonts auf- oder untergeht. Die Orte verschieben sich im Lauf der Monate und Jahre langsam von Süden nach Norden und wieder zurück. Alle 18,61 Jahre erreicht der Mond den nördlichsten Punkt: Dann findet die Große Nördliche Mondwende statt. Diesen Zeitpunkt kannten manche Menschen im Neolithikum - und setzten ihr Wissen in Architektur um. 19. O-Ton Saile 37-143, 29'40 Wenn man diese Nördliche Mondwende bestimmen kann, dann kann man den Menschen hier vorhersagen, wann es eine Mondfinsternis geben wird. Und dann ist man also der Herr über die Zeit und die Himmelsphänomene – und das schafft natürlich Prestige. Sprecher Das Erdwerk von Altheim ermöglichte den "Wissenden", ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Gräben und Palisade waren vermutlich dazu da, sie symbolisch von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen. Das Erdwerk diente demnach zur Organisation und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft. An diesem Ort versammelte sie sich zu wichtigen sozialen und religiösen Anlässen, Feiern inclusive. Auch das wohl bedeutendste Ritual des neolithischen Weltbilds haben die Menschen hier offensichtlich zelebriert: das Gedenken an die Ahnen. Die Archäologen stießen in den Gräben auf Menschenknochen, die unterschiedlich arrangiert worden waren. Sie identifizierten Einzelbestattungen in Hockerposition, sie fanden Schädel, sorgsam in Gruppen angeordnet und wild durcheinander liegende Knochen, die scheinbar achtlos weggeworfen worden waren. Möglich, sagt Saile, dass man sich hier von herausragenden Toten in einer Reihe unterschiedlicher Rituale verabschiedete, die im Lauf der Zeit aufeinander folgten. 20. O-Ton Saile 37-143, 37'21 Man kann sich vorstellen, dass man diese Menschen eben nicht gleich bestattet, sondern als Leichname vielleicht mumifiziert, vielleicht als Personen, die man immer wieder befragt, aufbewahrt, vielleicht in einem Gebäude, das darin errichtet ist. Und möglicherweise sind diese Knochen dann nach einigen Generationen auch wertlos, wenn die ihre Funktion nicht mehr erfüllen können, kann man die einfach in den Graben werfen, ohne dass man damit irgendeinen Frevel beginge. Sprecher Bei Ausgrabungen in den Gräben kamen auch fast 200 Pfeilspitzen aus Feuerstein zutage – eine ungewöhnliche Menge für die weitgehend friedliche Jungsteinzeit. Sie können nicht alle von Pfeilen für die Jagd stammen, meint der Ausgräber, sondern lassen einen Angriff auf das Erdwerk vermuten. 21. O-Ton Saile 37-143, 48'33 Das könnte man sich so erklären, dass diese Anlage, die über viele Generationen ja genutzt ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen Konflikt gerät. Man weiß jetzt nicht, wer gegen wen, vermutlich gar nicht weit entfernte Gruppen, sondern einfach die benachbarten Siedlungsgemeinschaften, die aus irgendeinem Grund jetzt mit dieser Siedlungsgruppe am Eichelbach in einen Konflikt geraten ist und den dann auch gewalttätig austrägt. Sprecher Die Kampfspuren bestätigen eine aktuelle Erkenntnis der Forschung: In den letzten Jahren sind an neolithischen Fundstellen mehrfach Spuren von Gewalt ans Licht gekommen: Belege für Überfälle, ja Massaker in kleinen Siedlungsgemeinschaften. Im Vergleich zu anderen Zeiten sind es Einzelfälle – sie belegen jedoch, dass die Epoche nicht die friedliche Idylle war, die man sich lange vorstellte. ATMO (Schritte & Tür zuschlagen) Sprecher Die spektakulärsten Funde aus den Altheimer Gräben findet man nicht im Museum in Landshut. Sie liegen wohlverpackt im Magazin der Archäologischen Staatssammlung in München. ATMO (Rascheln & Klappern) 22. O-Ton Schwarzberg 34-139, 0'50 Wir haben hier zwei Kupferbleche, das eine ist 1914 gefunden worden, das andere mit eingerollten Enden ist aus den neuen Grabungen, das ist 2013 entdeckt worden. Hier ist ein weiterer Fund, das ist ein sehr kleines Beil, nicht ganz 10 Zentimeter lang, ein grün korrodiertes Kupferbeil, es ist sehr gut erhalten, es ist noch heute relativ scharf- Sprecher - aber es wurde sicher nicht als Werkzeug benutzt, erklärt Dr. Heiner Schwarzberg, Experte für Vorgeschichte bei der Staatssammlung: Die Kupferobjekte glänzten ursprünglich in rötlich-goldenen Farbtönen. Wer so etwas besaß, in einer Zeit, als praktisch alle Waffen und Geräte aus Stein, Holz und Knochen gefertigt wurden, trug sie als prestigeträchtige Schmuckstücke zu Schau. Auch die Funde aus Altheim illustrieren, wie sich gegen Ende des Neolithikums die egalitäre Gesellschaft in unterschiedliche soziale Schichten spaltete. Zugleich kündigt der Werkstoff Metall, von dem hier gerade mal sieben Objekte gefunden wurden, bereits den Übergang in die nächsten Epochen an: die Metallzeiten.…
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1 STEINZEIT UND DANACH - Überleben in der Eiszeit 24:44
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24:44Vor 30.000 Jahren hatte die Eiszeit Europa noch fest im Griff. Damals, in der Altsteinzeit, verdrängte der anatomisch moderne Mensch zunehmend den Neandertaler. Was wissen wir über unsere Vorfahren? Von Katharina Hübel (BR 2024) Credits Autorin: Katharina Hübel Regie: Irene Schuck Sprecherin: Jennifer Güzel Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. George McGlynn, Prof. Dr. Cosimo Posth, Prof. Dr. Wilfried Rosendahl, Prof. Dr. Thorsten Uthmeier Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR (2024): Becoming the Beatles – Hamburger Jahre "We grew up in Hamburg", hat John Lennon gesagt. Und auch: "Live waren wir nie besser." Obwohl der erste Auftritt der Band in einem Stripclub auf St. Pauli ein totaler Reinfall war. Was ist da also passiert auf dem Hamburger Kiez zwischen 1960 und 1963? Wie wurden aus ein paar unbedarften Liverpooler Jungs absolute Superstars? Der Podcast erzählt, wie die jungen Beatles auf den Bühnen der Reeperbahn die Nächte durchspielen. Mit eisernem Willen einen Traum verfolgen. Und für immer die Popmusik-Geschichte verändern. Eine sechsteilige Podcast-Serie von NDR Kultur. ZUM PODCAST Linktipps: WDR (2023): Die Eiszeitkünstler – Als der Homo Sapiens kreativ wurde Die ältesten Kunstwerke der Menschheit liegen in einer schwäbischen Höhle - das berichtet "Nature" am 18.12.2003. Ein neuer Blick auf die frühe Menschheitsgeschichte ... Wissenschaftler finden bei Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb drei kleine Skulpturen aus Mammutelfenbein. Sie sind ein neuer Beleg dafür, dass das Gebiet an der oberen Donau ein wichtiges Zentrum der kulturellen Entwicklung des anatomisch modernen Menschen ist. JETZT ANHÖREN ARD alpha (2022): Vom Geben und Nehmen – Jäger und Sammler Steinzeitmensch Ötzi erzählt uns von seinen Vorfahren und aus seiner Zeit. Vor 15000 Jahren arbeiteten die Menschen zwei bis vier Stunden täglich. Sie arbeiteten und lebten für den Moment und planten nicht für die Zukunft. Die Männer jagten, die Frauen sammelten: eine erste klare Arbeitsteilung! Trotzdem waren alle gleichgestellt. Das Ergebnis der eigenen Arbeit ließ man - anders als heute - anderen zukommen. Man teilte, weil es sich so gehörte. Ab ca. 10000 v. Chr. wurden die Menschen dann sesshaft. Zu ihnen gehörte auch Ötzi. Sie betrieben Ackerbau und Viehzucht. Die Frauen hatten ihren "Preis". Nach und nach entstand die wirtschaftliche Basis für Herrschaft und Ungleichheit. JETZT ANSEHEN ARD alpha Uni (2024): Archäologin Elena arbeitet als Archäologin bei einer Grabungsfirma in Bayern. Natürlich ist das Ziel alte Befunde auszugraben, doch ein großer Teil der Arbeit ist Koordination, Bürokratie, Spurensuche bei den kleinsten Details und auch Fehlschläge. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO (Knistern) 01 OT McGlynn Wie Sie sehen: sehr gut verpackt, um den Schutz zu gewähren… In diesem Fall haben wir hier einen Oberschenkel und sehr schön intakt… Sprecherin: In drei unspektakulär grauen Pappkartons – Spezialanfertigung, säurefrei – lagert er: der älteste Homo Sapiens, den Wissenschaftler bislang in Deutschland gefunden haben, der Menschentyp, der dem Neandertaler den Rang ablaufen wird. Rund 34.000 Jahre alt, aus der Eiszeit. Ein „Bayer“, wenn man so will. Der so genannte „Mann von Neu-Essing“. In den Kisten der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München lagert sein Schädel, mit deutlichen Löchern zwar, aber dennoch gut erkennbar als menschlich, die beiden Kiefer mit Zähnen, Rückenwirbel, Arm- und Fingerknochen, Rippenbögen, Bruchstücke des Beckens, Schenkelknochen… 02 OT McGylnn Knochenoberflächengelenk hier… und Muskelansätze auf der anderen Seite sehr gut zu erkennen… MUSIK Sprecherin: Der „Mann von Neu-Essing“ ist einer der ersten anatomisch modernen Menschen, die in Europa überhaupt gelebt haben. Menschen, die uns mitgeprägt haben. Können deren Skelette Antworten geben auf die Fragen: Woher stammen wir? Wer sind unsere Vorfahren? 03 OT McGlynn Funde aus dieser Zeit sind absolute Raritäten. Sprecherin Sagt der Wissenschaftler Dr. George McGlynn. Das heutige Nordspanien, Frankreich oder Belgien, beispielsweise, sind Regionen, die vor 34.000 Jahren ebenfalls eisfrei waren und bewohnt von homo sapiens. Zudem waren Teile des heutigen Tschechiens und Österreichs von einzelnen Menschengruppen bewohnt. Jäger und Sammler, die mobil waren und den Tieren hinterher zogen. 04 OT McGlynn Wir sprechen von einem Zeitpunkt, wo doch viel Vergletscherung war und eine sehr harsche Umgebung. Der Neuessinger Mann ist ein fast vollständig intakter Skelettfund, manche von den anderen Funden sind lediglich einzelne Knochenfunde, ein Kiefer, ein Schädelstück, deshalb ist der Neuessinger Fund auch etwas ganz Besonderes wegen seiner Intaktheit. Man kann schon sagen, die Fundzahl von fünf, sechs Fundplätzen beträgt so um die 35 bis 40 Funde. Das ist ein absoluter Glücksfall, wenn man etwas findet, ganz selten findet man mehrere Teile eines einzelnen Individuums. Und anhand dieser fragmentierten Funde ist man praktisch als Wissenschaftler gezwungen, sehr viel reinzulesen. Aber es ist auch eine Riesenherausforderung. Sprecherin Die George McGlynn nicht alleine angeht. MUSIK Sprecherin Die Archäologie hat im letzten Jahrzehnt durch naturwissenschaftliche Methoden einen Modernisierungsschub bekommen. Archäologen kooperieren mit Chemikern, Genetikern, Informatikern. Denn manchmal trügt der Anschein und erst das Labor verrät die korrekten Daten. Wie beim „Mann von Neu-Essing“, der über viele Jahrzehnte falsch datiert, nämlich viel jünger geschätzt, in den Archiven verschwunden war. Sein Fall ist nun wieder aufgerollt und liefert neue Erkenntnisse über die Menschen in der Eiszeit. ATMO (Wind und Schritte) Sprecherin Wobei mit „Eiszeit“ die letzte Kaltzeit in der Geschichte unseres Planeten gemeint ist. Durchgängig kalt und eisig war es dabei gar nicht immer, erklärt Prof. Thorsten Uthmeier, der am Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg arbeitet und den Fundort des Mannes von Neu-Essing mit untersucht hat. OT05 Uthmeier Im Schnitt ist es so, dass die Jahresmitteltemperaturen bestimmt so zwischen sechs und acht Grad niedriger waren als die heutigen Jahresmittelwerte, mit auch während der Eiszeiten relativ milden Sommern, aber eine kurze Vegetationsperiode und sehr, sehr kalte Winter. Also im Schnitt Temperaturen von minus zwanzig bis minus zehn Grad. ATMO (Schritte auf Schnee / Wintersturm) Sprecherin Die Temperaturen konnten aber auch auf Minus vierzig Grad fallen, Dauerfrost war angesagt. Und oft gab es Winterstürme. Klima-Archäologen rekonstruieren die Temperaturen der Vergangenheit über Eisbohrkerne, aus Grönland oder der Antarktis. Gigantische Bohrkerne von über 3 Kilometern Länge. MUSIK Sprecherin Im Eis ist Staub eingeschlossen, außerdem Luft. Noch wichtiger: Sauerstoff, der im gefrorenen Eiszeitwasser konserviert ist. Er kann Chemikern etwas über die damalige Temperatur verraten. Je nachdem, wie viele Neutronen sich in den Sauerstoffatomen befinden. Ihre Anzahl schwankt je nach Außentemperatur. Außerdem geben Knochen-Funde Aufschluss über die eiszeitlichen Lebensbedingungen. Wissenschaftler nennen sie: „Umwelt-Archive“. Über die Knochen bestimmen die Archäologen die Tierarten und wann sie gelebt haben. Damit wissen sie, wovon sich die Menschen damals ernährt haben und bekommen auch eine Vorstellung von den Temperaturen. 07 OT Uthmeier Hier sind es in der Regel Rentiere, zum Teil auch Pferde, die haben eine große Temperaturtoleranz, die weichen dann vielleicht auf andere Weidegebiete aus. Die können auch niedrigeren Temperaturen widerstehen. Sprecherin Kleinere Tiere wie bestimmte Maus- oder Nagerarten hingegen halten extreme Kälte nicht so gut aus. Auch Pflanzen verraten mehr über das Klima und über die Möglichkeiten der Menschen. OT08 Uthmeier Wir dürfen uns das nicht so vorstellen, dass das Wälder gewesen sind, sondern in aller Regel sind das so kleine buschartige Gewächse von Nadelgehölzen. Wir wissen, dass die Beschaffung von Brennholz wahrscheinlich eine relativ schwierige Aufgabe gewesen ist. Weil es durchaus Konstruktionen gibt, um mit dem Brennholz besonders ökonomisch umzugehen. Regelrechte Herdkonstruktionen, eine Steinsetzung, die man dann mit einer Steinplatte abgedeckt hat. Und auf diese Art und Weise hatte man eigentlich einen kleinen Ofen und konnte auf diese Weise mit der Erhitzung der Steine ganz ökonomisch mit dem Brennholz umgehen, und das waren meistens nur kleine Zweige. Sprecherin Das Eis der kilometerhohen Gletscher bedeckte vor 34.000 Jahren ganz Nordeuropa, aber auch das heutige Nord- und Ostdeutschland, sowie den untersten Zipfel Süddeutschlands. Bayern hingegen – der Lebensraum des Mannes von Neu-Essing - war größtenteils eisfrei. Die Gebiete des heutigen Bodensees, Ammersees, Starnberger Sees und Chiemsees lagen allerdings unter einer über ein Kilometer dicken Eisschicht. Die Landschaft weiter nördlich bestand aus üppigen Steppen, die im Sommer auch schnee- und eisfrei waren und in denen Jäger und Sammler ein gutes Nahrungsangebot finden konnten. Da viel Wasser in den Gletschern gespeichert war, war der Himmel recht wolkenfrei und hell, mit viel Sonnenschein. OT09 Rosendahl Damals waren die Tiergruppen, die in großen Herden vorhanden waren, das wichtige Lebenspotenzial. Sprecherin Professor Wilfried Rosendahl ist wissenschaftlicher Vorstand des „Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie“, das den „Mann von Neu-Essing“ neu durchleuchtet hat. MUSIK Sprecherin Weitläufige Gras-Steppen voller Kräuter und Blumen sind der Lebensraum für zahlreiche Herden von Wollhaar-Mammuts, Wild-Pferden, Riesenhirschen oder Moschusochsen. Aber auch für gefährlichere Tiere, die sich heute in Mitteleuropa nicht mehr wohl fühlen würden wie Flusspferde und Wollhaarnashörner; zottelige Höhlenbären, -Löwen, -Hyänen und Säbelzahntiger. Die Menschen zur letzten Kaltzeit hatten – trotz aller Gefahren – also einen reich gedeckten Tisch: OT10 Rosendahl Die können Wurzeln essen. Sie können im Herbst Nüsse essen, im Frühjahr Beeren. Sie können frische Blätter essen, aber das limitiert sich natürlich mit dem Vorhandensein von Vegetation. Aber im Frühjahr gibt es eben Pflanzensprösslinge, die sie essen können. Sprecherin Löwenzahnblätter, junge Fichtenspitzen. Heilende Kräuter wie Thymian oder Spitzwegerich, Birkenblätter. Als besondere Delikatesse gab es manchmal sogar Honig – und fischen konnten die Menschen vor 34.000 Jahren natürlich auch schon. ATMO (peitschender Wind) Sprecherin Der Winter konnte mit Stürmen recht ungemütlich und kalt werden, aber die Jäger und Sammler wussten sich zu helfen – mit Zeltkonstruktionen, Rückzug in Höhlen und natürlich: Feuer. 11 OT Rosendahl Die Menschen konnten Leder gerben, sie konnten Kleidung herstellen, sie konnten nähen, sie haben Knochenwerkzeuge hergestellt, Steinwerkzeuge hergestellt. Sie haben aus Elfenbein Kunstwerke geschnitzt. Sie haben aus Knochen Flöten gemacht, sie haben sich wahrscheinlich geschminkt. Also sie hatten ein ganz, ganz buntes Leben. Um das tägliche Überleben zu sichern, mussten sie nicht acht Stunden am Tag arbeiten. Man muss sich bewusst machen: Es gibt Eiszeit-Kunstwerke in Südwestfrankreich, da sind in die Felswand hineingepickelt mit Steinwerkzeugen Pferde, die galoppieren über einen Meter Länge, drei, vier Pferde hintereinander. Das machen Sie nicht, wenn Sie täglich jede Sekunde irgendwie am Lebenslimit nagen und gucken müssen, dass Sie überleben, da ist auch Zeit für Muße, für Schönes und für Kreativität. Sprecherin Für die Jäger und Sammler vor zehntausenden von Jahren gab es mehr im Leben als nur das Überleben. Das Neu-Essing-Skelett wurde in einer Höhle gefunden, gut vier, fünf Meter unter der Erdoberfläche begraben. Eingefärbt mit Rötel. 12 OT Rosendahl Also mit einem roten, pulverartigen Ton, das kann rituelle Bedeutung haben. Und wenn ich eine Bestattung habe, dann verrät mir das schon was, dann muss das mit einer Glaubensvorstellung verbunden sein. Dass es nach dem Tod noch was gibt, das zeigt schon mal wie intensiv auch das Gruppenleben war und wie die Gedankenwelt dieser Menschen war. Sprecherin Beim Fund von Neu-Essing handelt es sich um die älteste menschliche Bestattung, die Archäologen in Deutschland bislang finden konnten. MUSIK Sprecherin Es ist deshalb ein so wichtiger Fund, weil er ein entscheidendes Puzzle-Teil mehr für die Forscher darstellt. 1913 wurde er von Archäologen ausgegraben – an einem vielschichtigen Fundort in der Nähe von Kelheim in Niederbayern, den inzwischen auch Thorsten Uthmeier mit seinem Team untersucht hat. 13 OT Uthmeier Wenn man auf dem Kirchplatz in Neu-Essing steht, dann links sieht man den Felsen, wo die Sesselfelsgrotte ist. Da gibt es Fundschichten aus der Zeit der Neandertaler. Da gibt es zehntausende von Steinwerkzeugen. Es gibt die ganze Jagdbeute, es gibt Umweltdaten. Und dann gibt es aber auch Daten aus der Zeit der späteiszeitlichen Jäger und Sammler… Sprecherin Ein ganzer Höhlenkomplex. In der so genannten „Mittleren Klause“ war der „Mann von Neu-Essing“ bestattet. Auch wenn der „Mann von Neu-Essing“ schon 1913 eine Sensation war, als er ausgegraben wurde – die wirkliche Dimension des Fundes ist erst in den letzten Jahren deutlich geworden. MUSIK Sprecherin Ein großes, interdisziplinäres Archäologenteam beginnt, den Fund nach modernsten Standards zu untersuchen. George McGlynn von der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München schaut sich zunächst die Knochen an, vermisst sie und prüft ihren Zustand. Da gibt es die nächste Überraschung für die Forscher – die eine bis dahin gültige Annahme über die Eiszeit widerlegt: 15 OT McGlynn Der Neu-Essinger ist interessanterweise kein großer, robuster, kräftiger Kerl, wie man es vielleicht erwarten würde bei solch widrigen Lebensumständen, allein die Kälte und die Wildtiere. Wir wissen, dass der frühere Mensch, der Homo Sapiens, in Europa und auch in Afrika, wo er herkommt, in Gruppen gelebt hat – er muss in Gruppen gelebt haben... Sprecherin Als Gruppe zu funktionieren war der entscheidende Vorteil des Homo sapiens in der Kältezeit. 16 OT McGlynn Vielleicht 30 Personen, ist jetzt rein spekulativ, aber damit eine kleine Gruppe von Jägern und Sammlern überleben kann, muss es diese Anzahl betragen. Sie haben ganz sicher miteinander gejagt, miteinander gesammelt, einander verteidigt, füreinander gesorgt. Und genau diese Gruppendynamik muss existiert haben, um die Überlebenschancen zu sichern. Ein Einzelkämpfer in so einer Umgebung, das gab es einfach nicht. Sprecherin So konnte er auch mit gerade mal ein Meter sechzig und nicht besonders muskulös gesund alt werden. Wie ausgeprägt die Muskeln waren, kann George McGlynn an Veränderungen und Verfärbungen auf der Knochenoberfläche erkennen. 17 OT McGlynn Unser Neu-Essinger Mann ist eigentlich ein kleiner, grazil gebauter Mann, er hat auch kaum irgendeine nennenswerte Knochenveränderung, was auf Gewalt oder Verletzungen hindeuten würde. Und ist aber trotzdem fast 50 Jahre alt geworden. Sprecherin George McGlynn schätzt sein Sterbealter, indem er sich anschaut, wie sehr die Backenzähne und Beckengelenke abgenutzt sind. Demnach ist der Mann von Neu-Essing mit zirka 50 Jahren deutlicher älter geworden als Forscher das bislang für Menschen aus der Eiszeit angenommen haben – mit einem Durchschnittsalter von 30 bis 35 Jahren. Knochen und Zähne des Neu-Essingers sehen mustergültig aus, stellt Archäologe George McGlynn fest. 18 OT McGlynn Er hatte auch keine so genannten physiologischen Stressmarker. Zum Beispiel, wenn im Kindesalter, wenn sich der Zahnschmelz vom Dauergebiss entwickelt, lang anhaltende Fieber oder Unterernährung oder schwere physiologische Stresse leiden, unterbricht der Körper den Entwicklungsprozess. Und das führt zu einer Verzögerung von dieser Bildung von Zahnschmelz. Diese Verzögerung führt dazu, dass man wellenartige Linien an den Zähnen sieht. Das ist ein Beispiel. MUSIK Sprecherin George McGlynn konnte noch mehr herausfinden: Wo der Mann von Neu-Essing unterwegs war. Mit der so genannten Stronziumanalyse. In Knochen ist unter anderem auch Stronzium enthalten. Je nachdem, welche Nahrung ein Mensch zu sich nimmt, auf welchem Boden die Pflanzen gewachsen sind, die er isst, oder welche Luft er atmet, welche Temperaturen ihn umgeben haben, lagern sich andere Varianten der Elemente im menschlichen Körper ab – auch in Knochen und Zähnen, die Archäologen zehntausende Jahre später noch finden können. Diese chemische Varianz macht sich die Archäologie zu nutze. 19 OT McGlynn Ich stamme persönlich aus den USA, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Das hat sich in meinen Knochen und meinen Zähnen verfestigt als Baustein und in den Zähnen, was Zahnschmelz wird. Diese werden nicht abgebaut, sie verändern sich nicht, sie sind praktisch amerikanische Zähne. Aber meine Knochen, die bauen sich ständig um. Jeden Tag, jede Minute. Binnen zehn Jahren sind alle Baustoffe in einem Knochen komplett ausgetauscht. Ich habe keine Spur von amerikanischen Knochen in mir. Wenn man meine Zähne und Knochen vergleichen würde auf chemischer Ebene, würde man sofort sehen: Dieser Mensch ist woanders geboren und aufgewachsen als wo er jetzt ist. Sprecherin: Archäologen können feststellen, in welcher Gegend ein Mensch gelebt haben muss, indem sie die chemischen Signaturen seiner Zähne und Knochen vergleichen mit Funden aus verschiedenen Regionen. Und wenn die chemische Signatur von Zähnen und Knochen gleich ist, wie beim Mann von Neu-Essing, wissen sie: Er ist zeitlebens in einer ähnlichen Gegend geblieben. 20 OT McGlynn Allerdings heißt es nicht, dass er sich nicht bewegt hat. Jäger und Sammler haben sich mit den Saisonen sehr stark bewegt, an die Kältezeit, Wärmezeit, sie haben sich auch an die Herden angepasst, an die Bewegung von Tieren. Sprecherin Auch wissen die Forscherinnen und Forscher mehr über seinen Speiseplan. Durch die Isotopen-Analyse. Dabei werden erneut chemische Elemente in den Knochen untersucht. Wie zum Beispiel Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Sie unterscheiden sich voneinander durch die Anzahl der Neutronen. Diese Varianten eines Elements heißen Isotope. 21 OT McGlynn Für Ernährung ist es wichtig, eine Isotopie-Karte von der Gegend zu machen. Das heißt, wir nehmen Pflanzen, Tiere, Erdproben, Knochenfunde aus der Zeit. Und wir untersuchen diese zuerst und kriegen für Kohlenstoff eine gewisse so genannte Signatur, was für Wollnashorn, für Mammut, für alle Rothirsche, für Gräser oder Baumrinde spezifisch ist. Sprecherin Die Isotopenwerte haben beim Mann von Neu-Essing ergeben, dass er eine Allround-Ernährung hatte: Er nahm Großwild wie Mammuts und Riesenhirsche genauso zu sich wie Hasen oder Eichhörnchen. Auch Schnecken, Raupen, Frösche, Beeren, Gräser, Kräuter und Fisch. MUSIK Sprecherin Doch wer war der „Mann von Neu-Essing“? Darauf gibt die Genetik Antwort. 22 OT McGlynn Die übliche Darstellung von Jägern und Sammlern aus dieser Zeit weicht sehr stark ab phänotypisch, wie er ausgesehen hat, von dem, was wir gefunden haben durch die molekulargenetischen Untersuchungen, die in Mainz von meinem Kollegen Burger und Team durchgeführt wurden. Diese Methoden gibt es erst seit vielleicht einem Jahrzehnt. Sein Aussehen ist mit bis zu 98, 99 Prozent dunkelhaarig, mit dunklen Augen, aber auch dunkler Hautfarbe, und die übliche Darstellung von den nordisch ausschauenden Menschen stimmt einfach nicht. Wir sehen, dass diese Wanderung aus der so genannten out of Africa-Theorie mit hundertprozentiger Sicherheit auch zutrifft. Diese Homo-Sapiens-Gruppen sind vor etwa 50.000 Jahren aus Afrika in zwei Wellen nach Europa ausgebreitet. Sprecherin: Auch die Vorstellung, davon, wie „Ötzi“ ausgesehen hat, ist übrigens erst 2023 durch die Gen-Analyse korrigiert worden: Auch die berühmte Gletschermumie aus den Südtiroler Alpen hatte dunkle Haut, dunkle Augen, dunkle Haare. Und Ötzi ist rund 30.000 Jahre jünger als der „Mann von Neu-Essing“. Die dunkle Hautfarbe der ersten Menschen in Europa hat sich also viel länger gehalten als bislang angenommen. Auch die Darstellung des Ötzi im Museum muss jetzt korrigiert werden. Dort steht immer noch eine Gestalt mit heller Haut. Die ersten Europäer – sie waren auf jeden Fall dunkelhäutig. MUSIK Sprecherin: Und auf die Archäologinnen und Archäologen warten noch weitere Überraschungen. Jetzt hat ein Forscherteam von 125 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die bislang umfangreichste Genom-Analyse eiszeitlicher Jäger und Sammler in Europa begonnen: 116 Individuen, die eine Zeitspanne von rund 30.000 Jahren abdecken. Professor Cosimo Posth ist Paläogenetiker an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und leitet das Projekt. Ihn hat erstaunt, dass die eiszeitlichen Homo Sapiens genetisch längst nicht so einheitlich waren wie bislang angenommen. Es gab ihn nicht: DEN Eiszeit-Menschen. Besonders drastisch zeigt sich das an einem Beispiel. Lange haben sich Archäologen gefragt: Was ist eigentlich mit den ersten Menschen in Europa passiert, als sich die Eispanzer von Norden her weiter ausgebreitet haben, vor 25.000 bis 19.000 Jahren? Als viele Gebiete, auch im heutigen Bayern, unbewohnbar wurden? Eine Theorie war: Sie gingen ins heutige Italien. Das hat sich zwar bewahrheitet. Doch was dann geschehen ist, damit hatte Cosimo Posth nicht gerechnet: Die komplette Bevölkerung starb aus. Die Menschen, die danach im heutigen Italien lebten und nachweisbar zu unseren Vorfahren gehören, haben genetisch nichts mit den aus dem Norden zugewanderten Eiszeitmenschen zu tun. 24 OT Cosimo Posth Wo ist der Ursprung der Population, die uns mehr als zehn Prozent der DNA gegeben hat? MUSIK Sprecherin: Die Spurensuche geht weiter für die Archäologinnen und Archäologen. Sicher ist: Eiszeitmenschen gehören zu unseren Vorfahren, doch wie sich das genetisch darstellt, stellt sich heute komplexer dar, als jemals zuvor.…
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1 DAS KOLOSSEUM - Ein Bau für Blut, Brot und Spiele 22:29
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22:29Gladiatorenspiele, Tierkämpfe und Schiffsschlachten - die Veranstaltungen im Kolosseum sollten unterhalten und die Macht des Kaisers feiern. Genauso wie der Bau - ein architektonisches Meisterwerk der Antike. Von Lukas Grasberger (BR 2020) Credits Autor dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Martin Trauner Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Jerzy May, Marlene Reichert Technik: Robin Auld Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Dr. Marcus Junkelmann: Historiker und Experimentalarchäologe, Mainburg Dr. Heinz-Jürgen Beste: Archäologe, Deutsches Archäologisches Institut, Rom Marie Jackson: Professorin für Geologie und Geophysik, University of Utah Martin Crapper: Professor für Maschinenbau und Bauingenieurwesen, Northumbria University, Newcastle Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN…
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