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KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Folge 1: Gertraud

27:29
 
Bagikan
 

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Gertraud Seidl aus der Nähe von Augsburg ist stolz: Sie ist vier Jahre alt und darf nun endlich auch mit auf die Weide und ihren Schwestern beim Hüten der Kühe helfen. Es bleibt aber nicht bei dieser Aufgabe. Auf dem Bauernhof ihrer Eltern ist in den 1950er Jahren so viel zu tun, dass sie nur wenig Zeit zum Spielen und für die Schule übrig hat. Dabei macht ihr nichts so viel Spaß wie zu lesen und zu lernen. Als sie in der achten Klasse ist, treffen ihre Eltern hinter ihrem Rücken eine folgenschwere Entscheidung. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab.

Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha
Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier
Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram

Ein besonderer Linktipp der Redaktion:
ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945
Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM.

Literaturtipps:

Anna Wimschneider (1985): Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin
„Herbstmilch“ ist die Lebensgeschichte der Bäuerin Anna Wimschneider – ein Dokument des 20. Jahrhunderts, das vom Schicksal der kleinen Leute handelt, von Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und ihr Leben bewältigen, aufrecht und unerschütterlich. Anna Wimschneiders Erinnerungen beginnen mit dem frühen Tod der Mutter, die eine neunköpfige Familie hinterlässt und deren Pflichten ganz selbstverständlich die achtjährige Tochter Anna übernehmen muss. Hier geht’s zum BUCH.

Heinrich von der Haar (2020): Kinderarbeit in Deutschland
Über 500.000 Kinder arbeiten für Lohn, die Hälfte verbotenerweise – bei einem unzureichenden Kinderarbeitsschutz. Die familiären Notlagen sind weitgehend unsichtbar und scheinen unerheblich. Die Scham der aus Not arbeitenden Kinder und ihrer Familien verstärkt das Tabu und den Eindruck geldgieriger Kinder, sodass die Schutzbedürftigkeit unwesentlich zu sein scheint. Erschreckend wenig wissen wir über die Lage arbeitender Kinder. Gleichgültig stehen viele der Vernachlässigung der Schule und den gesundheitlichen Schäden durch Kinderarbeit gegenüber. Hier geht’s zum BUCH.

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds Vergangenheit
TC 09:14 – Tag ein, Tag aus
TC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?
TC 13:41 – Rübenzeit statt Schule
TC 21:07 – „Schade, Gertraud“
TC 25:09 – Kampf gegen Armut
TC 26:11 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro

MUSIK

Autorin
Sie weiß noch, dass sie geweint hat. Vielleicht in ihrem Zimmer. Wenn es so war, dann musste sie die Treppe hoch, bis unters Dach. Weil sie sich den Raum mit ihren Geschwistern teilt, geht sie wahrscheinlich direkt zu ihrem Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. Gertraud ist 13 Jahre alt. Das Bett ist ihr Versteck. Der einzige Ort, der nur ihr gehört. Irgendetwas drückt ihr schmerzhaft in die Rippen. Sie tastet nach der Ursache: ein Buch. Sie hat es im Bett versteckt, damit ihre Eltern es nicht bemerken. Abends, wenn sie eigentlich schlafen soll, liest das Mädchen. Mit Taschenlampe unter der Bettdecke. Die meisten Bücher aus der Bücherei hat sie schon zweimal gelesen. Sie träumt sich so weg: zu den Abenteuern von Winnetou und Old Shatterhand, nach Amerika. Dort will sie hin – obwohl sie kein Wort Englisch kann. Das Schulfach hatte sie nämlich noch nicht. Und das wird auch so bleiben. Gertraud wird nie Englisch lernen. Nie raus in die Welt, wie sie es sich erträumt hat. Denn ihre Eltern haben eine Entscheidung getroffen – gegen ihren Willen.

MUSIK

Autorin
Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT: BEI UNS DOCH NICHT!
Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“.
ZSP 01 Collage
Ines Kämpfer:
Die Zahlen haben sich in den letzten paar Jahren wieder verschlechtert, das ist eine Entwicklung, die wir ganz klar in den USA sehen können, aber auch in europäischen Ländern.

Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich
Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.

Ausschnitt Reportage USA overvoiced:
Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen.

Gertraud Seidl:
Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt.

Arne Bartram:
Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt.

Ines Kämpfer:
Dass diese Kinder dann häufig in sehr gefährliche Arbeit eingegliedert werden.

Gertraud Seidl:
Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen.

Ines Kämpfer:
Es ist wirklich ein Teufelskreis. Und Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen.

Autorin Das ist Folge 1: Gertraud und der Bauernhof. 
ATMO Dorf
Autorin
Bei „Kinderarbeit“, da denke ich als Erstes an Länder wie Bangladesch. Oder ans 19. Jahrhundert. Ganz lang her, ganz weit weg. Das geht nicht nur mir so. Unter den häufigsten Google-Suchanfragen zu Kinderarbeit sind: „Kinderarbeit Industrialisierung“ und „Kinderarbeit in Indien“.
Aber ich musste überhaupt nicht weit reisen, um hier und jetzt eine Person zu treffen, die als Kind schwer gearbeitet hat. Und die damit wohl für eine ganze Generation steht, vor allem auf dem Land.

ATMO Straße/ Dorf/ Wind

Autorin
25 Kilometer von Augsburg entfernt liegt das kleine Motzenhofen. Ich gehe jetzt hier an Feldern vorbei. Also da, wo der Ort beginnt, und da wo er aufhört, sind jeweils Felder. Und es ist eine ganz kleine Ortschaft: Die Häuser sind dicht an dicht, eine Straße führt durch den Ort und die ist schon ganz schön befahren.

ATMO Auto fährt vorbei

Hier treffe ich gleich Gertraud Seidl. Die ist hier geboren, aufgewachsen, jetzt fast 80, lebt hier immer noch und ich bin schon ganz gespannt, wie sie ihre Kindheit hier erlebt hat an diesem Ort, und wie er sich vielleicht auch verändert hat seitdem.
TC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds Vergangenheit

ATMO Schritte

Autorin
Ich biege auf einen Hof ein. Vorne ein kleiner Gemüsegarten, hinten eine Scheune und ein weiß verputzter Stall mit Platz für mehrere Dutzend Kühe. Wo früher ein altes Bauernhaus war, steht jetzt ein Neubau.

ATMO Klingel, Tür geht auf
- Sohn: Hallo?
- Autorin: Hallo, ich bin Paula Lochte vom BR, ich bin verabredet mit Ihrer …
- Sohn: Mutter!
- Gertraud: Huch, ich habe Sie gar nicht gehört! Grüß Gott. Oh, haben Sie kalte Hände!
- Autorin: Ist ein bisschen kalt draußen.
- Gertraud: Ich habe selbst immer warme. Ich schaue mal, ob ich Pantoffeln für Sie habe.
Autorin
Gertraud führt mich zu einer Eckbank in einer großen Wohnküche. Am Esstisch malen ihre zwei Enkelinnen mit Buntstiften Ausmalbilder aus. Ein Mehrgenerationenhaus: Unten wohnt Gertraud, oben ihr Sohn mit seiner Frau und den Zwillingstöchtern.

- Gertraud: So, geht ihr hoch jetzt zum Papa, oder?
- Enkelin: Ich bleib da!
- Gertraud: Ja, bleibsch da.
- Enkelin: kichert
- Gertraud: Habt ihr überhaupt gesagt, wie alt ihr seid?
- Enkelinnen: Vier!
- Autorin: Vier!

Atmo (unter Text)

Autorin
Gertraud nimmt gegenüber von ihren Enkelinnen Platz.
- Gertraud: „Dann schauen wir mal: Oma hat Schulstunde.
- Enkelin: Nur anschauen
– Gertraud: Ja, nur mit den Augen anschauen, ein Mikrofon ist das, was die Frau da hat, siehst du.
– Enkelin: Ja. (Lachen)

MUSIK

Autorin
Auf einmal ist es wie bei diesen Postkarten mit den Wackelbildern: Ich sehe die Frau, die fast 80 ist. Aber wenn ich zu ihren Enkelinnen blicke, mit ihren zerzausten weißblonden Haaren und dem schelmischen Grinsen, dann ist es, als würde ich Gertraud als kleines Mädchen sehen.

MUSIK hoch

Als sie vier Jahre alt wird, 1948, da ist Gertraud richtig stolz. Denn sie ist endlich alt genug:
ZSP Gertraud Kühe hüten
(enthusiastisch) Zuerst ist man mitgelaufen und dann hat man, wenn die Großen das können, dann muss der Kleine hinten nach auch können. Man hat ja immer wollen!

Autorin
„Die Großen“, das sind ihre drei älteren Schwestern. Gertraud reicht ihnen zwar gerade mal bis zur Hüfte …

ZSP 05b Gertraud Wusch
„I war ja so a kleina Wusch.“ (lacht)
Autorin
… aber sie darf nun mit. Zum Kühe hüten! Gut, ein vierjähriger Fratz neben einer Kuh: Wer passt da eigentlich auf wen auf?

ZSP 05c Gertraud Kühe hüten
Kühe hüten, das war eigentlich, wenn schönes Wetter war, die tollste Arbeit. Da war man halt viel draußen. Da war nebendran ein Wald. Und da haben wir viel im Wald gespielt! Und einen Bach gab es da. Ja, das war schön! Da haben wir uns immer gestritten, wer da mitdarf. Meistens ein Größeres und ein Kleines dazu und so.

MUSIK

Autorin
Kühe, Gänse und Schweine zu hüten war eine Aufgabe, die in Deutschland lang vor allem Kinder übernommen haben. Seien es die eigenen oder die sogenannten „Hütekinder“ oder „Schwabenkinder“. Das waren Kinder aus armen Bauernfamilien im Alpenraum, zwischen sechs und elf Jahre alt. Zigtausende von ihnen sind jedes Jahr ohne ihre Eltern nach Oberschwaben, also in den Süden von Bayern und Baden-Württemberg, gekommen. Um sich dort auf den Höfen anderer Familien zu verdingen: als saisonale Arbeitskräfte. Ihr Arbeitstag begann um vier, fünf Uhr morgens und endete, zumindest in der Erntezeit im Sommer, erst gegen 22:00 Uhr.

Was mich besonders erschreckt, denn das ist ja immer ein Warnsignal, dass es Kindern nicht gut geht: Bettnässen war bei Hütekindern ein verbreitetes Problem. Das habe ich in der Recherche immer wieder gelesen. Denn die Kinder standen unter einem enormen Druck, dazu kamen der Schlafmangel und das Heimweh. Nicht allen Hütekindern ging es schlecht. In Überlieferungen von ihnen lese ich, dass manche genau wie Gertraud das Tiere hüten mochten. Dass sie auch „stolz“ waren auf ihre Arbeit. Oder es ihnen in der Fremde zumindest besser ging als zuhause, immerhin gab es genug zu essen. Aber es gibt auch Berichte von Misshandlungen und sexuellen Übergriffen durch die „Dienstherren“. Hütekinder gab es bis in die Nachkriegszeit. Sie haben schwer gearbeitet, aber zum Bruchteil des Lohns eines Erwachsenen. Manche der Kinder waren so arm, dass sie nicht mal Schuhe hatten. Und so sind ihnen, wenn es auf der Weide besonders kalt war, Zehen abgefroren. Eine Strategie dagegen war: die Füße in die warmen Kuhfladen zu stecken. Gertraud, die Bauerntochter aus dem schwäbischen Motzenhofen, hatte, als sie klein war, in den 50er Jahren, zum Glück immer Schuhe. Und Arbeitskleidung, wenn auch nur die abgetragenen Sachen ihrer Schwestern. Das „Arbeitsgewand“, wie sie es nennt, sah ungefähr so aus wie ein Dirndl:

ZSP 06a Gertraud Arbeitsgewand
Da waren da meistens Puffärmel dran. Im Winter dann natürlich lange Ärmel. Da vorne Knöpfe und ein Rock und darüber dann eine Schürze. So wie die, die da an der Tür hängt.
Autorin
Wie eine Küchenschürze also. Mit Taschen innen und außen. Praktisch, denn wenn die eine Seite schmutzig ist, kann man die Schürze einfach umdrehen. Und am Samstagnachmittag, wenn die Arbeit auf dem Feld getan ist …

ZSP 06b Getraud Arbeitsgewand
Da hat man dann das Arbeitsgewand gewaschen, mit der Bürste. Wenn man da flott war, hat man dann mehr Freizeit gehabt.
TC 09:14 – Tag ein, Tag aus

MUSIK

Autorin
Mir fällt auf, dass Gertraud kein einziges Mal jammert, als sie mir von ihrer Kindheit erzählt. Selbst wenn’s um harte Arbeit geht, die erst am Samstagabend endet. Oder um Situationen, in denen ihre Eltern sie seelisch verletzt haben (dazu kommen wir noch). Sie hat das alles stoisch ertragen. Verklärt vielleicht auch manches in der Rückschau, das machen wir ja alle. Aber wenn wir zu Erinnerungen kommen, die schön waren, dann merke ich schon einen Unterschied in ihrer Stimme. Da schwingt dann auf einmal Freude mit:

ZSP 6c Interview Spiele
- Gertraud: Wenn der Mais schön draußen gestanden ist und die Kolben angesetzt hat, dann haben wir die Maiskolben rausgerissen und Pferdl gespielt.
- Autorin: Der Mais war dann das Pferd?
- Gertraud: Ja, das Gelbe vom Mais ist das Pferd gewesen, weil die haben ja dahinten den Schwanz dran gehabt die Maiskolben, die haben doch da die Haare dran.

Autorin
Die Momente, in denen Gertraud und ihre Geschwister einfach nur spielen sind kostbar – auch weil sie so selten sind. Die meisten Tage sehen ganz anders aus:

ZSP 07a Gertraud Tagesablauf
Um sechse hat die Mama geweckt. …

Autorin
Eins der fünf Kinder muss aber immer schon eine Stunde früher aufstehen, um gemeinsam mit den Eltern auf dem Acker oder der Wiese das Futter für die Tiere zu holen. Einer übernimmt das Mähen, der andere lädt auf – zusammen geht es schneller.

ZSP 07b Interview Tagesablauf
- Gertraud: So um Dreiviertelsieben haben wir fertig sein müssen, da sind wir nach Hollenbach gegangen eine gute Viertelstunde zu Fuß in die Kirche: Da war um sieben Uhr jeden Tag eine Messe. Und nach der Kirche, um acht, ist dann die Schule angegangen. Die war gleich zwei Häusl weiter ungefähr.
- Autorin: Und dann, nach der Schule?
- Gertraud: Je nachdem, was für eine Arbeit angefallen ist. Erst war bei uns immer angestanden, Hausaufgaben machen.
Autorin
Also den Eltern ist, zumindest in den ersten Schuljahren, schon wichtig, dass sich die Kinder erst um die Schule kümmern, und dann um die Arbeit. Von der gibt es mehr als genug:

ZSP 07c Gertraud Tagesablauf
Unsere Eltern haben am Vormittag meistens eine Fuhre Futterrüben aufgeladen und die haben wir dann in den Keller schmeißen müssen. Und da war so eine Holzrutsche in den Keller, da sind sie dann runtergerollt.

Autorin
Und danach? Je nach Jahreszeit und Wetter …

ZSP 08 Gertraud Aufgaben
Den Hof zusammenkehren, Rüben und Kartoffeln am Acker das Unkraut raushacken, Disteln, da hat man die Wurzeln abgestochen im Getreidefeld. Holz reinholen, Holz nachfüllen, Reisig hacken, beim Kartoffelklauben haben wir natürlich auch geholfen, klar: Meine zweite Schwester, die war sehr kräftig, die hat dann immer die Körbe ausgeleert. Oder das Grünfutter gemäht, Klee, das haben wir alles gelernt: Getreide mähen mit der Sense und so. Das ist nicht so einfach. Das ist schon klar.

MUSIK

TC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?

Autorin
Das Gewicht von einem vollen Kartoffelkorb tragen, mit der Sense mähen, Stunden auf dem Feld ackern: Das sind Schwerstarbeiten. Was Gertraud und ihre Geschwister als Kinder leisten müssen, ist eine ganz andere Nummer als hier mal ein bisschen im Haushalt zu helfen oder dort mal ein wenig mitanzupacken – das würde auch nicht unter „Kinderarbeit“ fallen. Die UN-Kinderrechtskonvention verbietet seit 1989 Arbeit, die für Kinder gefährlich oder schädlich ist und dadurch deren Rechte verletzt. Wie das Recht auf Bildung, auf Sicherheit oder Gesundheit. Gemeint sind mit dem Begriff „Kinderarbeit“ also Aufgaben, für die Kinder eigentlich zu jung sind. Wer arbeitet, muss mindestens 15 sein, auf dieses Mindestalter haben sich Staaten mittlerweile in internationalen Abkommen geeinigt.

ZSP 09a Gertraud

Da gibt es ein Sprichwort, das heißt: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.

Autorin
Das sagt Gertraud in unserem Gespräch immer wieder

ZSP 09b Gertraud
Was dich nicht umbringt, macht dich stärker – heißt es. Mich hat es stark gemacht.
Autorin
Vielleicht ist das eine typische Haltung für ihre Generation. Und es stimmt: Gertraud wirkt total fit, viel jünger als 80. Sie ist eher klein, aber bis heute ganz drahtig und hat kurze braune Haare.

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301 episode

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Gertraud Seidl aus der Nähe von Augsburg ist stolz: Sie ist vier Jahre alt und darf nun endlich auch mit auf die Weide und ihren Schwestern beim Hüten der Kühe helfen. Es bleibt aber nicht bei dieser Aufgabe. Auf dem Bauernhof ihrer Eltern ist in den 1950er Jahren so viel zu tun, dass sie nur wenig Zeit zum Spielen und für die Schule übrig hat. Dabei macht ihr nichts so viel Spaß wie zu lesen und zu lernen. Als sie in der achten Klasse ist, treffen ihre Eltern hinter ihrem Rücken eine folgenschwere Entscheidung. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab.

Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha
Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier
Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram

Ein besonderer Linktipp der Redaktion:
ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945
Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM.

Literaturtipps:

Anna Wimschneider (1985): Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin
„Herbstmilch“ ist die Lebensgeschichte der Bäuerin Anna Wimschneider – ein Dokument des 20. Jahrhunderts, das vom Schicksal der kleinen Leute handelt, von Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und ihr Leben bewältigen, aufrecht und unerschütterlich. Anna Wimschneiders Erinnerungen beginnen mit dem frühen Tod der Mutter, die eine neunköpfige Familie hinterlässt und deren Pflichten ganz selbstverständlich die achtjährige Tochter Anna übernehmen muss. Hier geht’s zum BUCH.

Heinrich von der Haar (2020): Kinderarbeit in Deutschland
Über 500.000 Kinder arbeiten für Lohn, die Hälfte verbotenerweise – bei einem unzureichenden Kinderarbeitsschutz. Die familiären Notlagen sind weitgehend unsichtbar und scheinen unerheblich. Die Scham der aus Not arbeitenden Kinder und ihrer Familien verstärkt das Tabu und den Eindruck geldgieriger Kinder, sodass die Schutzbedürftigkeit unwesentlich zu sein scheint. Erschreckend wenig wissen wir über die Lage arbeitender Kinder. Gleichgültig stehen viele der Vernachlässigung der Schule und den gesundheitlichen Schäden durch Kinderarbeit gegenüber. Hier geht’s zum BUCH.

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds Vergangenheit
TC 09:14 – Tag ein, Tag aus
TC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?
TC 13:41 – Rübenzeit statt Schule
TC 21:07 – „Schade, Gertraud“
TC 25:09 – Kampf gegen Armut
TC 26:11 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro

MUSIK

Autorin
Sie weiß noch, dass sie geweint hat. Vielleicht in ihrem Zimmer. Wenn es so war, dann musste sie die Treppe hoch, bis unters Dach. Weil sie sich den Raum mit ihren Geschwistern teilt, geht sie wahrscheinlich direkt zu ihrem Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. Gertraud ist 13 Jahre alt. Das Bett ist ihr Versteck. Der einzige Ort, der nur ihr gehört. Irgendetwas drückt ihr schmerzhaft in die Rippen. Sie tastet nach der Ursache: ein Buch. Sie hat es im Bett versteckt, damit ihre Eltern es nicht bemerken. Abends, wenn sie eigentlich schlafen soll, liest das Mädchen. Mit Taschenlampe unter der Bettdecke. Die meisten Bücher aus der Bücherei hat sie schon zweimal gelesen. Sie träumt sich so weg: zu den Abenteuern von Winnetou und Old Shatterhand, nach Amerika. Dort will sie hin – obwohl sie kein Wort Englisch kann. Das Schulfach hatte sie nämlich noch nicht. Und das wird auch so bleiben. Gertraud wird nie Englisch lernen. Nie raus in die Welt, wie sie es sich erträumt hat. Denn ihre Eltern haben eine Entscheidung getroffen – gegen ihren Willen.

MUSIK

Autorin
Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT: BEI UNS DOCH NICHT!
Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“.
ZSP 01 Collage
Ines Kämpfer:
Die Zahlen haben sich in den letzten paar Jahren wieder verschlechtert, das ist eine Entwicklung, die wir ganz klar in den USA sehen können, aber auch in europäischen Ländern.

Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich
Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.

Ausschnitt Reportage USA overvoiced:
Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen.

Gertraud Seidl:
Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt.

Arne Bartram:
Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt.

Ines Kämpfer:
Dass diese Kinder dann häufig in sehr gefährliche Arbeit eingegliedert werden.

Gertraud Seidl:
Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen.

Ines Kämpfer:
Es ist wirklich ein Teufelskreis. Und Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen.

Autorin Das ist Folge 1: Gertraud und der Bauernhof. 
ATMO Dorf
Autorin
Bei „Kinderarbeit“, da denke ich als Erstes an Länder wie Bangladesch. Oder ans 19. Jahrhundert. Ganz lang her, ganz weit weg. Das geht nicht nur mir so. Unter den häufigsten Google-Suchanfragen zu Kinderarbeit sind: „Kinderarbeit Industrialisierung“ und „Kinderarbeit in Indien“.
Aber ich musste überhaupt nicht weit reisen, um hier und jetzt eine Person zu treffen, die als Kind schwer gearbeitet hat. Und die damit wohl für eine ganze Generation steht, vor allem auf dem Land.

ATMO Straße/ Dorf/ Wind

Autorin
25 Kilometer von Augsburg entfernt liegt das kleine Motzenhofen. Ich gehe jetzt hier an Feldern vorbei. Also da, wo der Ort beginnt, und da wo er aufhört, sind jeweils Felder. Und es ist eine ganz kleine Ortschaft: Die Häuser sind dicht an dicht, eine Straße führt durch den Ort und die ist schon ganz schön befahren.

ATMO Auto fährt vorbei

Hier treffe ich gleich Gertraud Seidl. Die ist hier geboren, aufgewachsen, jetzt fast 80, lebt hier immer noch und ich bin schon ganz gespannt, wie sie ihre Kindheit hier erlebt hat an diesem Ort, und wie er sich vielleicht auch verändert hat seitdem.
TC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds Vergangenheit

ATMO Schritte

Autorin
Ich biege auf einen Hof ein. Vorne ein kleiner Gemüsegarten, hinten eine Scheune und ein weiß verputzter Stall mit Platz für mehrere Dutzend Kühe. Wo früher ein altes Bauernhaus war, steht jetzt ein Neubau.

ATMO Klingel, Tür geht auf
- Sohn: Hallo?
- Autorin: Hallo, ich bin Paula Lochte vom BR, ich bin verabredet mit Ihrer …
- Sohn: Mutter!
- Gertraud: Huch, ich habe Sie gar nicht gehört! Grüß Gott. Oh, haben Sie kalte Hände!
- Autorin: Ist ein bisschen kalt draußen.
- Gertraud: Ich habe selbst immer warme. Ich schaue mal, ob ich Pantoffeln für Sie habe.
Autorin
Gertraud führt mich zu einer Eckbank in einer großen Wohnküche. Am Esstisch malen ihre zwei Enkelinnen mit Buntstiften Ausmalbilder aus. Ein Mehrgenerationenhaus: Unten wohnt Gertraud, oben ihr Sohn mit seiner Frau und den Zwillingstöchtern.

- Gertraud: So, geht ihr hoch jetzt zum Papa, oder?
- Enkelin: Ich bleib da!
- Gertraud: Ja, bleibsch da.
- Enkelin: kichert
- Gertraud: Habt ihr überhaupt gesagt, wie alt ihr seid?
- Enkelinnen: Vier!
- Autorin: Vier!

Atmo (unter Text)

Autorin
Gertraud nimmt gegenüber von ihren Enkelinnen Platz.
- Gertraud: „Dann schauen wir mal: Oma hat Schulstunde.
- Enkelin: Nur anschauen
– Gertraud: Ja, nur mit den Augen anschauen, ein Mikrofon ist das, was die Frau da hat, siehst du.
– Enkelin: Ja. (Lachen)

MUSIK

Autorin
Auf einmal ist es wie bei diesen Postkarten mit den Wackelbildern: Ich sehe die Frau, die fast 80 ist. Aber wenn ich zu ihren Enkelinnen blicke, mit ihren zerzausten weißblonden Haaren und dem schelmischen Grinsen, dann ist es, als würde ich Gertraud als kleines Mädchen sehen.

MUSIK hoch

Als sie vier Jahre alt wird, 1948, da ist Gertraud richtig stolz. Denn sie ist endlich alt genug:
ZSP Gertraud Kühe hüten
(enthusiastisch) Zuerst ist man mitgelaufen und dann hat man, wenn die Großen das können, dann muss der Kleine hinten nach auch können. Man hat ja immer wollen!

Autorin
„Die Großen“, das sind ihre drei älteren Schwestern. Gertraud reicht ihnen zwar gerade mal bis zur Hüfte …

ZSP 05b Gertraud Wusch
„I war ja so a kleina Wusch.“ (lacht)
Autorin
… aber sie darf nun mit. Zum Kühe hüten! Gut, ein vierjähriger Fratz neben einer Kuh: Wer passt da eigentlich auf wen auf?

ZSP 05c Gertraud Kühe hüten
Kühe hüten, das war eigentlich, wenn schönes Wetter war, die tollste Arbeit. Da war man halt viel draußen. Da war nebendran ein Wald. Und da haben wir viel im Wald gespielt! Und einen Bach gab es da. Ja, das war schön! Da haben wir uns immer gestritten, wer da mitdarf. Meistens ein Größeres und ein Kleines dazu und so.

MUSIK

Autorin
Kühe, Gänse und Schweine zu hüten war eine Aufgabe, die in Deutschland lang vor allem Kinder übernommen haben. Seien es die eigenen oder die sogenannten „Hütekinder“ oder „Schwabenkinder“. Das waren Kinder aus armen Bauernfamilien im Alpenraum, zwischen sechs und elf Jahre alt. Zigtausende von ihnen sind jedes Jahr ohne ihre Eltern nach Oberschwaben, also in den Süden von Bayern und Baden-Württemberg, gekommen. Um sich dort auf den Höfen anderer Familien zu verdingen: als saisonale Arbeitskräfte. Ihr Arbeitstag begann um vier, fünf Uhr morgens und endete, zumindest in der Erntezeit im Sommer, erst gegen 22:00 Uhr.

Was mich besonders erschreckt, denn das ist ja immer ein Warnsignal, dass es Kindern nicht gut geht: Bettnässen war bei Hütekindern ein verbreitetes Problem. Das habe ich in der Recherche immer wieder gelesen. Denn die Kinder standen unter einem enormen Druck, dazu kamen der Schlafmangel und das Heimweh. Nicht allen Hütekindern ging es schlecht. In Überlieferungen von ihnen lese ich, dass manche genau wie Gertraud das Tiere hüten mochten. Dass sie auch „stolz“ waren auf ihre Arbeit. Oder es ihnen in der Fremde zumindest besser ging als zuhause, immerhin gab es genug zu essen. Aber es gibt auch Berichte von Misshandlungen und sexuellen Übergriffen durch die „Dienstherren“. Hütekinder gab es bis in die Nachkriegszeit. Sie haben schwer gearbeitet, aber zum Bruchteil des Lohns eines Erwachsenen. Manche der Kinder waren so arm, dass sie nicht mal Schuhe hatten. Und so sind ihnen, wenn es auf der Weide besonders kalt war, Zehen abgefroren. Eine Strategie dagegen war: die Füße in die warmen Kuhfladen zu stecken. Gertraud, die Bauerntochter aus dem schwäbischen Motzenhofen, hatte, als sie klein war, in den 50er Jahren, zum Glück immer Schuhe. Und Arbeitskleidung, wenn auch nur die abgetragenen Sachen ihrer Schwestern. Das „Arbeitsgewand“, wie sie es nennt, sah ungefähr so aus wie ein Dirndl:

ZSP 06a Gertraud Arbeitsgewand
Da waren da meistens Puffärmel dran. Im Winter dann natürlich lange Ärmel. Da vorne Knöpfe und ein Rock und darüber dann eine Schürze. So wie die, die da an der Tür hängt.
Autorin
Wie eine Küchenschürze also. Mit Taschen innen und außen. Praktisch, denn wenn die eine Seite schmutzig ist, kann man die Schürze einfach umdrehen. Und am Samstagnachmittag, wenn die Arbeit auf dem Feld getan ist …

ZSP 06b Getraud Arbeitsgewand
Da hat man dann das Arbeitsgewand gewaschen, mit der Bürste. Wenn man da flott war, hat man dann mehr Freizeit gehabt.
TC 09:14 – Tag ein, Tag aus

MUSIK

Autorin
Mir fällt auf, dass Gertraud kein einziges Mal jammert, als sie mir von ihrer Kindheit erzählt. Selbst wenn’s um harte Arbeit geht, die erst am Samstagabend endet. Oder um Situationen, in denen ihre Eltern sie seelisch verletzt haben (dazu kommen wir noch). Sie hat das alles stoisch ertragen. Verklärt vielleicht auch manches in der Rückschau, das machen wir ja alle. Aber wenn wir zu Erinnerungen kommen, die schön waren, dann merke ich schon einen Unterschied in ihrer Stimme. Da schwingt dann auf einmal Freude mit:

ZSP 6c Interview Spiele
- Gertraud: Wenn der Mais schön draußen gestanden ist und die Kolben angesetzt hat, dann haben wir die Maiskolben rausgerissen und Pferdl gespielt.
- Autorin: Der Mais war dann das Pferd?
- Gertraud: Ja, das Gelbe vom Mais ist das Pferd gewesen, weil die haben ja dahinten den Schwanz dran gehabt die Maiskolben, die haben doch da die Haare dran.

Autorin
Die Momente, in denen Gertraud und ihre Geschwister einfach nur spielen sind kostbar – auch weil sie so selten sind. Die meisten Tage sehen ganz anders aus:

ZSP 07a Gertraud Tagesablauf
Um sechse hat die Mama geweckt. …

Autorin
Eins der fünf Kinder muss aber immer schon eine Stunde früher aufstehen, um gemeinsam mit den Eltern auf dem Acker oder der Wiese das Futter für die Tiere zu holen. Einer übernimmt das Mähen, der andere lädt auf – zusammen geht es schneller.

ZSP 07b Interview Tagesablauf
- Gertraud: So um Dreiviertelsieben haben wir fertig sein müssen, da sind wir nach Hollenbach gegangen eine gute Viertelstunde zu Fuß in die Kirche: Da war um sieben Uhr jeden Tag eine Messe. Und nach der Kirche, um acht, ist dann die Schule angegangen. Die war gleich zwei Häusl weiter ungefähr.
- Autorin: Und dann, nach der Schule?
- Gertraud: Je nachdem, was für eine Arbeit angefallen ist. Erst war bei uns immer angestanden, Hausaufgaben machen.
Autorin
Also den Eltern ist, zumindest in den ersten Schuljahren, schon wichtig, dass sich die Kinder erst um die Schule kümmern, und dann um die Arbeit. Von der gibt es mehr als genug:

ZSP 07c Gertraud Tagesablauf
Unsere Eltern haben am Vormittag meistens eine Fuhre Futterrüben aufgeladen und die haben wir dann in den Keller schmeißen müssen. Und da war so eine Holzrutsche in den Keller, da sind sie dann runtergerollt.

Autorin
Und danach? Je nach Jahreszeit und Wetter …

ZSP 08 Gertraud Aufgaben
Den Hof zusammenkehren, Rüben und Kartoffeln am Acker das Unkraut raushacken, Disteln, da hat man die Wurzeln abgestochen im Getreidefeld. Holz reinholen, Holz nachfüllen, Reisig hacken, beim Kartoffelklauben haben wir natürlich auch geholfen, klar: Meine zweite Schwester, die war sehr kräftig, die hat dann immer die Körbe ausgeleert. Oder das Grünfutter gemäht, Klee, das haben wir alles gelernt: Getreide mähen mit der Sense und so. Das ist nicht so einfach. Das ist schon klar.

MUSIK

TC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?

Autorin
Das Gewicht von einem vollen Kartoffelkorb tragen, mit der Sense mähen, Stunden auf dem Feld ackern: Das sind Schwerstarbeiten. Was Gertraud und ihre Geschwister als Kinder leisten müssen, ist eine ganz andere Nummer als hier mal ein bisschen im Haushalt zu helfen oder dort mal ein wenig mitanzupacken – das würde auch nicht unter „Kinderarbeit“ fallen. Die UN-Kinderrechtskonvention verbietet seit 1989 Arbeit, die für Kinder gefährlich oder schädlich ist und dadurch deren Rechte verletzt. Wie das Recht auf Bildung, auf Sicherheit oder Gesundheit. Gemeint sind mit dem Begriff „Kinderarbeit“ also Aufgaben, für die Kinder eigentlich zu jung sind. Wer arbeitet, muss mindestens 15 sein, auf dieses Mindestalter haben sich Staaten mittlerweile in internationalen Abkommen geeinigt.

ZSP 09a Gertraud

Da gibt es ein Sprichwort, das heißt: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.

Autorin
Das sagt Gertraud in unserem Gespräch immer wieder

ZSP 09b Gertraud
Was dich nicht umbringt, macht dich stärker – heißt es. Mich hat es stark gemacht.
Autorin
Vielleicht ist das eine typische Haltung für ihre Generation. Und es stimmt: Gertraud wirkt total fit, viel jünger als 80. Sie ist eher klein, aber bis heute ganz drahtig und hat kurze braune Haare.

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