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Navid Kermani – In die andere Richtung jetzt | Buchkritik

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„Das ist für mich elementar, dass ich aus meiner eigenen kleinen Welt herauskomme und die Welt sehe, wie sie ist. Und das mache ich ja seit vielen Jahren. Ich habe gemerkt, dass es besser ist, wenn ich über einzelne Regionen länger berichte, über einen längeren Zeitraum mich auf einzelne Regionen konzentriere", meint Navid Kermani. Die Welt zu sehen, wie sie ist, das bedeutet in den Ländern Ostafrikas mit gewaltigen Problemen und großer Not konfrontiert zu werden. Navid Kermani glaubt, dass sich hier globale Probleme verdichten und dass es sich rächen wird, wenn wir der Region zu wenig Aufmerksamkeit schenken.

Apathische Menschen

Im Süden Madagaskars schaut er auf die dramatischen Auswirkungen der ersten klimabedingten Hungersnot. Das Land, das eigentlich fruchtbar ist, erscheint dem Reporter aus der Luft wie eine aufgegebene Mine. Viele Wälder sind verschwunden, geblieben sind Baumstümpfe. Auch die restlichen Bäume werden abgeholzt, weil Holzkohle der letzte Verdienst ist. Navid Kermani berichtet von apathischen Menschen, die der Hunger beherrscht, von Kindern, die nicht mehr spielen, von Menschenkolonnen, die schwere Wasserkanister kilometerweit schleppen. Er habe vorgehabt, auch über das Leben zu schreiben, aber die Not sei dringlicher gewesen, notiert der Autor mit Blick nicht nur auf Madagaskar. So Navid Kermani: „Was sich am ehesten behauptet hat, war die Musik, weil sie eine ähnliche Existenzialität hat, eine Notwendigkeit, wie ich sie selten je erlebt habe. Aber wenn man ein Kind sieht, das vor Hunger stirbt, erschlägt das alle anderen Erfahrungen erstmal für lange Zeit." Navid Kermani erzählt auch von der Musik. Aber es ergeht dem Leser wie dem Autor. Die Begegnungen mit Musikern verblassen vor der Wucht anderer, existenzieller Eindrücke und Erfahrungen. Im Norden Äthiopiens in der Region Tigray trifft der Reporter eine vorzeitig gealterte Frau, die von Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Ein fünfjähriges Mädchen zeigt die Narbe, die ein Messer hinterlassen hat. Jemand hat ihr Bein der Länge nach aufgeschlitzt. „Wer macht so etwas?“, sinniert der Autor. Er spricht mit Kämpfern der tigrayschen Volksbefreiungsfront, die „zu viel erlebt haben, um noch von dieser Welt zu sein“. Navid Kermani verbirgt nicht, wie ihn all das mitnimmt. Eine halbe Million Tote hat der nach seiner Ansicht „nicht nur grausamste, sondern auch sinnloseste Krieg unserer Zeit“ gefordert. Wenn Kermani nach den Gründen für die Kämpfe fragt, erntet er auf beiden Seiten nur Schulterzucken. Navid Kermani sagt dazu: „Was in Tigray so erschütternd ist: Man denkt immer, Kriege entstehen aus Verschiedenheit. Die Menschen, die sich in Tigray bekämpft haben, vergewaltigt, massakriert und so weiter, das waren Menschen mit der gleichen Sprache, mit dem gleichen Gebetsbuch, mit den gleichen Traditionen."

Produktive Überforderung

Seine Beobachtungen veranlassen den Reporter dazu, grundsätzlich über Krieg und Frieden, über Klima und Umweltzerstörung nachzudenken. Einfache Rezepte hat er nicht zu bieten. Vielmehr folgt man diesem Autor immer wieder fasziniert bei seinem Nachdenken und Nachforschen; dabei, wie er unterschiedliche Antworten ausprobiert – und oft zu neuen Fragen kommt. Ich will nicht am Ende das Gefühl erzeugen, dies oder jenes ist die Lösung oder die Conclusion oder die These oder: so ist Afrika oder so ist Ostafrika. Sondern im Gegenteil: Wer reist, der wird verwirrt, der merkt, dass all das, was er im Kopf hatte, gar nicht stimmt. Und das Ziel wäre eher, die Leserinnen und Leser an dieser Verwirrung teilnehmen zu lassen, diese faszinierende Kompliziertheit fassbar zu machen, so dass man am Ende nicht besser Bescheid weiß, sondern viel mehr Fragen hat. Also weniger Bescheid weiß. Das wäre ganz schön." Dieser Autor reduziert Komplexität nicht auf eine gut verdauliche, aber realitätsferne Einfachheit. Sein Buch überfordert auf eine produktive Art. Jedes Land, das Navid Kermani bereist hat und von dem er berichtet, ist mit eigenen, spezifischen Herausforderungen konfrontiert. „In die andere Richtung jetzt“ ist eines der Bücher, die man nicht einfach zur Seite legt.
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Apathische Menschen

Im Süden Madagaskars schaut er auf die dramatischen Auswirkungen der ersten klimabedingten Hungersnot. Das Land, das eigentlich fruchtbar ist, erscheint dem Reporter aus der Luft wie eine aufgegebene Mine. Viele Wälder sind verschwunden, geblieben sind Baumstümpfe. Auch die restlichen Bäume werden abgeholzt, weil Holzkohle der letzte Verdienst ist. Navid Kermani berichtet von apathischen Menschen, die der Hunger beherrscht, von Kindern, die nicht mehr spielen, von Menschenkolonnen, die schwere Wasserkanister kilometerweit schleppen. Er habe vorgehabt, auch über das Leben zu schreiben, aber die Not sei dringlicher gewesen, notiert der Autor mit Blick nicht nur auf Madagaskar. So Navid Kermani: „Was sich am ehesten behauptet hat, war die Musik, weil sie eine ähnliche Existenzialität hat, eine Notwendigkeit, wie ich sie selten je erlebt habe. Aber wenn man ein Kind sieht, das vor Hunger stirbt, erschlägt das alle anderen Erfahrungen erstmal für lange Zeit." Navid Kermani erzählt auch von der Musik. Aber es ergeht dem Leser wie dem Autor. Die Begegnungen mit Musikern verblassen vor der Wucht anderer, existenzieller Eindrücke und Erfahrungen. Im Norden Äthiopiens in der Region Tigray trifft der Reporter eine vorzeitig gealterte Frau, die von Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Ein fünfjähriges Mädchen zeigt die Narbe, die ein Messer hinterlassen hat. Jemand hat ihr Bein der Länge nach aufgeschlitzt. „Wer macht so etwas?“, sinniert der Autor. Er spricht mit Kämpfern der tigrayschen Volksbefreiungsfront, die „zu viel erlebt haben, um noch von dieser Welt zu sein“. Navid Kermani verbirgt nicht, wie ihn all das mitnimmt. Eine halbe Million Tote hat der nach seiner Ansicht „nicht nur grausamste, sondern auch sinnloseste Krieg unserer Zeit“ gefordert. Wenn Kermani nach den Gründen für die Kämpfe fragt, erntet er auf beiden Seiten nur Schulterzucken. Navid Kermani sagt dazu: „Was in Tigray so erschütternd ist: Man denkt immer, Kriege entstehen aus Verschiedenheit. Die Menschen, die sich in Tigray bekämpft haben, vergewaltigt, massakriert und so weiter, das waren Menschen mit der gleichen Sprache, mit dem gleichen Gebetsbuch, mit den gleichen Traditionen."

Produktive Überforderung

Seine Beobachtungen veranlassen den Reporter dazu, grundsätzlich über Krieg und Frieden, über Klima und Umweltzerstörung nachzudenken. Einfache Rezepte hat er nicht zu bieten. Vielmehr folgt man diesem Autor immer wieder fasziniert bei seinem Nachdenken und Nachforschen; dabei, wie er unterschiedliche Antworten ausprobiert – und oft zu neuen Fragen kommt. Ich will nicht am Ende das Gefühl erzeugen, dies oder jenes ist die Lösung oder die Conclusion oder die These oder: so ist Afrika oder so ist Ostafrika. Sondern im Gegenteil: Wer reist, der wird verwirrt, der merkt, dass all das, was er im Kopf hatte, gar nicht stimmt. Und das Ziel wäre eher, die Leserinnen und Leser an dieser Verwirrung teilnehmen zu lassen, diese faszinierende Kompliziertheit fassbar zu machen, so dass man am Ende nicht besser Bescheid weiß, sondern viel mehr Fragen hat. Also weniger Bescheid weiß. Das wäre ganz schön." Dieser Autor reduziert Komplexität nicht auf eine gut verdauliche, aber realitätsferne Einfachheit. Sein Buch überfordert auf eine produktive Art. Jedes Land, das Navid Kermani bereist hat und von dem er berichtet, ist mit eigenen, spezifischen Herausforderungen konfrontiert. „In die andere Richtung jetzt“ ist eines der Bücher, die man nicht einfach zur Seite legt.
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