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Annette Hölzl: Warum ein Papst die Rockmusik erfunden hat
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Wie macht man klassische Musik spannend?
Das Problem an Vorurteilen ist, dass sie sich verselbstständigen. Dass sie sich wie Plastikmüll im Ozean unseres kollektiven Geistes verteilen und dort herumschwimmen, und wenn man nicht schnell genug handelt, dann zersetzen sie sich und verschmelzen nahezu untrennbar mit dem sie umgebenden gigantischen blauen Ökosystem. Wie will man dem entgegenwirken? Wie fischt man historische Mikropartikel aus dem diskursiven Meer, wie überzeugt man etwa Menschen davon, klassische Musik nicht per se langweilig, sondern ganz toll zu finden?Eine anekdotische Geschichtswanderung
Annette Hölzl versucht es in ihrem Buch mit einer Art neuem Framing: Schaut her, die vermeintlich biedere „E“-Musik und die coole, junge „U“-Musik hängen doch eigentlich immer schon zusammen! Die Chorknaben des Thomanerchors haben zu Beginn des 14. Jahrhunderts doch auch die „Spielleute auf dem Marktplatz“ gefeiert! Die berühmten „four chords“ aus der Popmusik sind schon Tausende von Jahren alt und kommen aus dem alten Griechenland! Und übrigens kann man Wolfgang Amadeus Mozart schon auch irgendwie mit Michael Jackson vergleichen, weil sie beide ähnliche Lebensläufe hatten und sehr berühmt waren! Kann das funktionieren? Die Autorin beginnt ihre Ausführungen im Jahr 600 v. Chr. und bewegt sich davon ausgehend mittels Anekdoten, teils fantasierter Szenenbeschreibungen und musiktheoretischer Schlaglichter durch die musikhistorischen Epochen. Dabei handelt sie grob die grundlegenden Inhalte einer Musikgeschichtsvorlesung ab: von ars antiqua und ars nova zum Quintenzirkel, vom Pythagoreischen Komma zur temperierten Stimmung, vom Tetrachord und den Kirchentonarten zu Dur und Moll, natürlich altes Griechenland, altes Rom, Notre-Dame, Renaissance, Barock und Romantik, dazu die bekannten Namen – es abendländelt.Ein Potpourri an Namen
Bei dieser inhaltlich standardisierten Nacherzählung zieht Hölzl aber immer wieder Vergleiche zu moderneren Phänomenen und Entwicklungen, zu zeitgenössischer Sprache und populären Genres. Da stehen dann Bach und Carl Orff in einem Satz mit Deep Purple, und aus einem „Ostinato“ wird auch mal ein „Loop“. Das ist oft nichts Neues, ab und zu lustig und manchmal absurd weit hergeholt. Aber in einzelnen Fällen wird es peinlich: „Und dann entdeckt Pythagoras auch noch die Quarte. Sie erklingt mit der lockersten Saite im Verhältnis 6:8, also 3:4.[… Die] Proportionen seiner Intervalle […] mit den Schwingungsverhältnissen 1:2:3:4, also Grundton, Oktave, Quinte und Quarte[,] gelten in der Antike als Weltformel für Harmonie und Ordnung, die sich auf sämtliche Bereiche des Lebens und Wissens übertragen lassen. Damit hat Pythagoras auch den Blues entdeckt! Denn etwa 2500 Jahre später besteht die Harmoniefolge des einfachen Blues aus genau diesen Intervallen.“ Natürlich hat Pythagoras nicht den Blues entdeckt, genauso wenig wie Christopher Kolumbus Amerika entdeckt hat oder Isaac Newton die Mondrakete. Der im Titel des Buches versprochene Papst hat auch nicht die Rockmusik „erfunden“, sondern Hölzls Ausführungen zufolge durch ein Verbot mehrstimmiger Musik bewirkt, dass für gewisse Zeit in den Kirchen wieder nur Grundton, Quarte und Quinte zu hören waren – wie, grob gesagt, in vielen Rock-Klassikern auch.Gut gemeint doch stellenweise unangenehm
An dieser Stelle kommen wir zu einem grundsätzlichen Problem des Buches: Annette Hölzl möchte einer jüngeren Generation die klassische Musik nahebringen und passt dafür ihre Sprache und die Struktur und Aufmachung des Buches entsprechend an. Die Sätze sind kurz und sprechsprachlich, es gibt Ausrufe wie „Wow!“ und „Aha!“ und ein paar Anglizismen, daneben stehen Bilder und QR-Codes, die zu YouTube-Videos führen. Das ist alles gut gemeint und in der Form auch stringent umgesetzt. Allerdings entstehen dabei immer wieder inhaltliche Verkürzungen, falsche Übersetzungen und Behauptungen und leider auch schlimme Stereotype, gegen die die Autorin eigentlich ins Feld ziehen wollte: Da werden alte, längst widerlegte Leiern wieder hochgeholt, wie die von Mozarts vermeintlicher Erzfeindschaft mit Antonio Salieri – und immer wieder finden sich wirklich unangenehm zu lesende Passagen etwa über Rap-Konzerte voller „hipper“ junger Leute, die Sneaker tragen und „Löcherjeans“, dazu „trendy Uhren, Ringe und Tattoos“ und die angeblich Sätze zueinander sagen wie: „Bring das Thema back-to-the-garage und dann noch was Disruptives rein! Wir sind die Game-Changer, wir denken out-of-the-box.“Keine Quelle für die Bachelorarbeit
Das ist richtig schade. Denn Annette Hölzl hat durchaus einiges zu sagen. Im Buch finden sich nämlich neben dem vielen Cringe auch wirklich starke Passagen etwa zum Thema Talent, zu vermeintlicher Unmusikalität oder der Frage, wie jeder Mensch Musik hören lernen kann – und die Autorin liefert ein komplettes, erstaunlich solides Kapitel über den systematischen Ausschluss von Frauen aus der Musikgeschichte: „Nach der Barockzeit hat die Oper […] die Vernichtung der Frau zum Thema. Die männlichen Textdichter, männlichen Komponisten und männlichen Regisseure lassen die Frauen ab jetzt dafür. Büßen, dass sie angeblich die Gefühlswelt der Männer durcheinanderbringen. In den Opern werden sie besiegt, verraten, gedemütigt, verachtet, verkauft, verführt, misshandelt, verlassen, vergiftet und ermordet. […] In der Oper ist die Frau immer die Verliererin.“ Das Buch „Warum ein Papst die Rockmusik erfunden hat“ ist vielleicht eher als Konglomerat musikhistorisch inspirierter Anekdoten, Fantasien und Gedankenspiele zu lesen – aber nicht als verlässliche oder gar „wissenschaftliche“ Informationsquelle. Vielleicht schafft Annette Hölzl es ja trotzdem mit ihrem Text ein paar Plastikgegenstände aus dem Vorurteile-Meer zu fischen – selbst wenn sie gleichzeitig ein paar neue dazuschmeißt.740 episode
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Wie macht man klassische Musik spannend?
Das Problem an Vorurteilen ist, dass sie sich verselbstständigen. Dass sie sich wie Plastikmüll im Ozean unseres kollektiven Geistes verteilen und dort herumschwimmen, und wenn man nicht schnell genug handelt, dann zersetzen sie sich und verschmelzen nahezu untrennbar mit dem sie umgebenden gigantischen blauen Ökosystem. Wie will man dem entgegenwirken? Wie fischt man historische Mikropartikel aus dem diskursiven Meer, wie überzeugt man etwa Menschen davon, klassische Musik nicht per se langweilig, sondern ganz toll zu finden?Eine anekdotische Geschichtswanderung
Annette Hölzl versucht es in ihrem Buch mit einer Art neuem Framing: Schaut her, die vermeintlich biedere „E“-Musik und die coole, junge „U“-Musik hängen doch eigentlich immer schon zusammen! Die Chorknaben des Thomanerchors haben zu Beginn des 14. Jahrhunderts doch auch die „Spielleute auf dem Marktplatz“ gefeiert! Die berühmten „four chords“ aus der Popmusik sind schon Tausende von Jahren alt und kommen aus dem alten Griechenland! Und übrigens kann man Wolfgang Amadeus Mozart schon auch irgendwie mit Michael Jackson vergleichen, weil sie beide ähnliche Lebensläufe hatten und sehr berühmt waren! Kann das funktionieren? Die Autorin beginnt ihre Ausführungen im Jahr 600 v. Chr. und bewegt sich davon ausgehend mittels Anekdoten, teils fantasierter Szenenbeschreibungen und musiktheoretischer Schlaglichter durch die musikhistorischen Epochen. Dabei handelt sie grob die grundlegenden Inhalte einer Musikgeschichtsvorlesung ab: von ars antiqua und ars nova zum Quintenzirkel, vom Pythagoreischen Komma zur temperierten Stimmung, vom Tetrachord und den Kirchentonarten zu Dur und Moll, natürlich altes Griechenland, altes Rom, Notre-Dame, Renaissance, Barock und Romantik, dazu die bekannten Namen – es abendländelt.Ein Potpourri an Namen
Bei dieser inhaltlich standardisierten Nacherzählung zieht Hölzl aber immer wieder Vergleiche zu moderneren Phänomenen und Entwicklungen, zu zeitgenössischer Sprache und populären Genres. Da stehen dann Bach und Carl Orff in einem Satz mit Deep Purple, und aus einem „Ostinato“ wird auch mal ein „Loop“. Das ist oft nichts Neues, ab und zu lustig und manchmal absurd weit hergeholt. Aber in einzelnen Fällen wird es peinlich: „Und dann entdeckt Pythagoras auch noch die Quarte. Sie erklingt mit der lockersten Saite im Verhältnis 6:8, also 3:4.[… Die] Proportionen seiner Intervalle […] mit den Schwingungsverhältnissen 1:2:3:4, also Grundton, Oktave, Quinte und Quarte[,] gelten in der Antike als Weltformel für Harmonie und Ordnung, die sich auf sämtliche Bereiche des Lebens und Wissens übertragen lassen. Damit hat Pythagoras auch den Blues entdeckt! Denn etwa 2500 Jahre später besteht die Harmoniefolge des einfachen Blues aus genau diesen Intervallen.“ Natürlich hat Pythagoras nicht den Blues entdeckt, genauso wenig wie Christopher Kolumbus Amerika entdeckt hat oder Isaac Newton die Mondrakete. Der im Titel des Buches versprochene Papst hat auch nicht die Rockmusik „erfunden“, sondern Hölzls Ausführungen zufolge durch ein Verbot mehrstimmiger Musik bewirkt, dass für gewisse Zeit in den Kirchen wieder nur Grundton, Quarte und Quinte zu hören waren – wie, grob gesagt, in vielen Rock-Klassikern auch.Gut gemeint doch stellenweise unangenehm
An dieser Stelle kommen wir zu einem grundsätzlichen Problem des Buches: Annette Hölzl möchte einer jüngeren Generation die klassische Musik nahebringen und passt dafür ihre Sprache und die Struktur und Aufmachung des Buches entsprechend an. Die Sätze sind kurz und sprechsprachlich, es gibt Ausrufe wie „Wow!“ und „Aha!“ und ein paar Anglizismen, daneben stehen Bilder und QR-Codes, die zu YouTube-Videos führen. Das ist alles gut gemeint und in der Form auch stringent umgesetzt. Allerdings entstehen dabei immer wieder inhaltliche Verkürzungen, falsche Übersetzungen und Behauptungen und leider auch schlimme Stereotype, gegen die die Autorin eigentlich ins Feld ziehen wollte: Da werden alte, längst widerlegte Leiern wieder hochgeholt, wie die von Mozarts vermeintlicher Erzfeindschaft mit Antonio Salieri – und immer wieder finden sich wirklich unangenehm zu lesende Passagen etwa über Rap-Konzerte voller „hipper“ junger Leute, die Sneaker tragen und „Löcherjeans“, dazu „trendy Uhren, Ringe und Tattoos“ und die angeblich Sätze zueinander sagen wie: „Bring das Thema back-to-the-garage und dann noch was Disruptives rein! Wir sind die Game-Changer, wir denken out-of-the-box.“Keine Quelle für die Bachelorarbeit
Das ist richtig schade. Denn Annette Hölzl hat durchaus einiges zu sagen. Im Buch finden sich nämlich neben dem vielen Cringe auch wirklich starke Passagen etwa zum Thema Talent, zu vermeintlicher Unmusikalität oder der Frage, wie jeder Mensch Musik hören lernen kann – und die Autorin liefert ein komplettes, erstaunlich solides Kapitel über den systematischen Ausschluss von Frauen aus der Musikgeschichte: „Nach der Barockzeit hat die Oper […] die Vernichtung der Frau zum Thema. Die männlichen Textdichter, männlichen Komponisten und männlichen Regisseure lassen die Frauen ab jetzt dafür. Büßen, dass sie angeblich die Gefühlswelt der Männer durcheinanderbringen. In den Opern werden sie besiegt, verraten, gedemütigt, verachtet, verkauft, verführt, misshandelt, verlassen, vergiftet und ermordet. […] In der Oper ist die Frau immer die Verliererin.“ Das Buch „Warum ein Papst die Rockmusik erfunden hat“ ist vielleicht eher als Konglomerat musikhistorisch inspirierter Anekdoten, Fantasien und Gedankenspiele zu lesen – aber nicht als verlässliche oder gar „wissenschaftliche“ Informationsquelle. Vielleicht schafft Annette Hölzl es ja trotzdem mit ihrem Text ein paar Plastikgegenstände aus dem Vorurteile-Meer zu fischen – selbst wenn sie gleichzeitig ein paar neue dazuschmeißt.740 episode
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